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Bus 100 nach Utopia

Bus

Der Bus der Linie 100 hält an der Flüchtlingseinrichtung. Ich bin oft mit diesem Bus nach der Arbeit nach Hause gefahren und versuchte, bei Eskalation zu unterstützen. Meistens war ich machtlos.
Völlig überforderte Busfahrer*innen, die allein gelassen, ungeschult und ohne Hilfsmittel bis zu fünfzig Geflüchteten nacheinander erklären mussten, dass das Ticket, welches sie gestern für 7,40 € gekauft hatten, ein Tagesticket für ihre gestrige Fahrt nach Kassel war. Das ist, nicht nur sprachlich, schwer zu verstehen, wenn dir nur 143€ an Bargeld im Monat zur Verfügung stehen.

Im Bus saßen auch Menschen, die sich fragten, warum Geflüchtete überhaupt mit dem Bus durch die Gegend fahren müssen, und ob es nicht möglich sei, sie noch „konzentrierter in ihrem Lager zu halten“.  Jay-Jay, aus deinem Papa wird kein Diplomat, befürchte ich, aber es war erschütternd, wie viele Menschen dem Mann zustimmten, der ausgeprägtestes rassistisches Gedankengut vertrat. Die Reise mit dem Bus 100 hatte über Tage hinweg ein wenig was von einer Evolutionsreise zurück zum Primaten, mit dem Unterschied, dass Schimpansen und Co. nachweislich zu Empathie in der Lage sind. Es war abgrundtief ekelhaft und da dies alles zu einer Zeit geschah, als noch niemand Einschränkungen vorweisen konnte, die er persönlich durch Geflüchtete zu ertragen hatte, kamen auch bei mir erst einmal Zweifel auf. Keine Zweifel ob wir Geflüchtete in hoher Zahl aufnehmen sollen, sondern Sorge, wie viel langsamer ein Integrationsprozess verlaufen könnte, wenn die Ansichten der*des Caldener Durchschnittsbürger*in ihren Entwicklungsprozess gemacht haben. Die Zuwanderung in diesem Ausmaß wird uns über Jahre hinweg beschäftigen, es wird zahlreiche Probleme geben, es wird unser Land an Grenzen führen und ja, es wird auch eine zunehmende Belastung für jeden Einzelnen werden. Natürlich ist es zu früh, dass die Kanzlerin an ihr „Wir schaffen das.“ ein „Aber wir werden die Arschbacken zusammenkneifen müssen.“ anhängt, aber man spürte in den letzten Wochen ja schon deutlich, wie oft über Geschehnisse gesprochen wird ohne an die Ursachen zu erinnern. Wir sprachen über Schlägereien ohne einen der Eskalationsauslöser zu benennen. Das soll Taten nicht entschuldigen, es soll nur verdeutlichen, dass wir mit schuldig sind.

Jay-Jay, ich habe nicht den Einfluss darauf, wann du zeitlich zur Lektüre dieser Zeilen findest. Eigentlich müsste ich manchen Artikel mit einem Zeitstempel versehen. Vielleicht spürst du nämlich jetzt, wo du dies liest, schon die ersten positiven Auswirkungen der Flüchtlingskrise.

Wer die Menschen gesehen hat, die dort nach ihrer monatelangen Odyssee an Bahnhöfen und in Erstaufnahmeeinrichtungen ankamen und nicht völlig automatisch das Bedürfnis hatte, diesen Menschen zu helfen, ist viel allein gewesen, hat selten Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft oder Zuneigung genossen. Ausser vielleicht heimlich beim Kameradschaftsabend. Intimität fürs völkische Miteinander. Anders ist es nicht erklärbar, aber hier sind wir schon beim eigentlichen Problem, da so gut wie keiner der Hetzer in irgendeiner Art und Weise in Kontakt mit einem der Flüchtenden trat oder sich bemühte, deren Umstände zu verstehen.

Es ist außerordentlich kontraproduktiv, dass wir im Kontext mit Flüchtenden viel über Grenzkontrollen, Finanzierungen, Gesetze, Schuldige, Vermeidungsmöglichkeiten, Asylrechtsverschärfungen, politische Entscheidungen und mittelfristige Strategien sprechen. Niemand spricht über die Menschen, die bereits da sind und die eine Geschichte mitbringen. Wie will man jemals den Austausch fördern, Integration forcieren, wenn wir niemals über Ihre Bedürfnisse und Ansichten sprechen? Was bringen Sie mit an Erfahrungen, Fähigkeiten und Qualitäten, die sie einbringen können?

Toleranz, Hilfsbereitschaft, Willkommenskultur und Respekt dürfen nicht in Erstaufnahmeinrichtungen enden und sind Eigenschaften, die immer noch stärker vom Bildungsgrad abhängen als vom Geburtsort. Es braucht doch nicht einmal Mut, vor dem großen Auflisten von Sorgen, Ängsten, Befürchtungen, vor dem Schüren des Problemfeuers, vielleicht einmal über die Möglichkeit nachzudenken, fernab von geografischen und religiösen Zugehörigkeiten, es einfach mal mit Offenheit zu versuchen, mit kleinsten Gesten zu beginnen. Es verlangt doch niemand, dass jeder drei Familien in seinem Eigenheim unterbringt, aber ein Lächeln, ein „Hallo“, ein „Schön, dass du da bist“ kann Wunder bewirken und bekämpft die Skepsis, die wie ein Virus die Chance, der als Realität gelebten Integration verhindert. Ich sehe massig Hände und Köpfe, die willens sind meinen Kindern etwas Last, der bevorstehenden Rentenproblematik in Verbindung mit der Demografieentwicklung abzunehmen. Ich bin da also zugegebenermaßen recht egoistisch, aber eben auch überzeugt, dass die sinnigste aller Verhaltensmöglichkeiten, die ist, bestmöglich die neu angekommenen Menschen, in diesem Land zu unterstützen.

Aber es ist auch wichtig zu differenzieren. Ich verstehe die*den Alleinverdiener*in, die*der schon jetzt in einer Stadt wohnt, in der Wohnraum für Singles in der jüngeren Vergangenheit teurer geworden ist. Ich verstehe auch die grundsätzlichen Sorgen, die eine kurzfristige Versorgung vieler Menschen mit Wohnraum, Bildung und Arbeit bereitet. Ich verstehe die Skepsis der Politik gegenüber, die in zahlreichen Fällen gezeigt hat, wie grandios man Situationen verkacken kann. Mir ist die*der ein oder andere kühle Rechner*in und Skeptiker*in vielleicht sogar manchmal lieber als die*der himmelhochjauchzende Vertreter*in der Willkommenskultur, die*der das alles nur so lange gut findet, solange dem Sohnemann nicht über den Winter die Möglichkeit des Sportunterrichts genommen wird und weil es eben gerade en vogue ist oder jemanden stimmungstechnisch danach ist. Überhaupt halte ich es auch für unglücklich, dass man bei Verwendung des Wortes „Besorgnis“ im Kontext zur Flüchtlingssituation schnell in die rechte Ecke gestellt wird. Ich kenne viele Menschen, die sich eindeutig für Flüchtlinge aussprechen, die selbst geholfen haben, dies immer noch tun, und die sich auf unterschiedlichste Art und Weise engagieren. Trotzdem sorgen sie sich, und ich kann das nachvollziehen und die Sorgen sind ja auch berechtigt, denn nichts forderte uns persönlich so, wie es die Zuwanderung tun wird. Man kann sich über das Versagen der Politik unterhalten, dass man die Situation, trotz ihrer Absehbarkeit unterschätzt hat, man kann sich auch über bereits getroffene Maßnahmen echauffieren, so ändert es trotzdem nichts dran, dass unsere Regierung ein träger Apparat ist und sich die Spendenbereitschaft der wirklich großen Wirtschaftsunternehmen auch peinlich auffällig in Grenzen hält.

Ich glaube auch, dass es problematisch ist, sich hauptsächlich an den Entscheidungen der Politik zu orientieren. Dieses Problem geht uns alle an, und es spricht nichts dagegen, sich in einer Zeit, in der man als bekennender Fremdenfeind auch ohne nennenswerten Imageverlust mindestens eine der sogenannten großen Volksparteien wählen kann, deutlich zu positionieren. Und diese Positionierung hat ganz sicher weit weg von den Parteien zu erfolgen, die nur die geschilderten Sorgen als Köder nutzen und das Problem nicht lösungsorientiert angehen möchten, sondern sich in einer hilflos wirkenden Vermeidungsstrategie versuchen der Zuwanderung von Menschen aus Kriegsgebieten zu entziehen. Vor allem dürfen wir nicht zulassen, dass es die insbesondere in den kleinen Orten große Teile der Bevölkerung für normal erachten gemeinsame Sache mit Nazis und Rassisten zu machen. Es ist besorgniserregend wie viele Leute auf dem rechten Auge blind scheinen und diesem menschenverachtenden Abschaum auf den Leim gehen.

Sie erzählen Horrormärchen von den bösen Flüchtlingen, die vor dem IS fliehen, tausende Kilometer zurücklegen, Tod, Angst und tagtäglich menschenunwürdige Zustände erleben, mit Schaumstoff-gefaketen Schwimmwesten sich auf völlig überfüllten Schlauchbooten über das Mittelmeer schippern lassen, um sich dann hier vor Ort von eben diesen IS-Anhängern anheuern zu lassen. Sie schwingen die Kostenkeule und schüren Ängste, ohne zu erwähnen, dass die Kosten für Flüchtlinge 2015 gerade einmal 1,6% des aktuellen Haushaltes ausmachen werden. Sie sprechen von Benehmen, Anpassung und Integration, von Sitten und Gebräuchen. In einem Land, in dem über zwanzig Prozent der Nahrungsmittel weggeworfen werde, sorgen wir uns darüber, wie wir nicht einmal zwei Prozent mehr Bevölkerung satt bekommen sollen? Wer forciert eigentlich diese Normierung? Wieso muss immer alles gleich gemacht werden? Wäre es nicht großartig für die all die Leckermäuler tausende neuer syrischer Süßspeisen kennen zu lernen? Nicht nur kulinarisch haben uns Einflüsse aus dem Ausland in den letzten Jahren gut getan. Leitkultur? Wenn es eine Leitkultur geben muss, wer ist eigentlich der Maßstab? Ich will da nur sicher gehen. Ich möchte nicht nach den Sitten und Gebräuchen eines Herrn Söder oder Herrn Herrmann leben. Ich habe Verantwortung auch meinen Kindern gegenüber und sehe in dem Gesellschaftsbild, welches die Parteienlandschaft Deutschlands zu vermitteln versucht, viel mehr Gefahr, als in der kulturellen Vielfalt, die uns die Menschen, die zu uns kommen bescheren. So sarkastisch das klingt, aber insbesondere eine Flucht aus Syrien muss man sich leisten können. Das sind keine Tagelöhner, die wirtschaftlich in Ihrem Land nicht zurechtkamen und deshalb ihr Glück in der Ferne suchten, sondern oftmals gut ausgebildete, vermutlich sogar einigermaßen wohlhabende Menschen. Menschen, mit einem Willen, einem Verantwortungsgefühl und einem Selbstbewusstsein ausgestattet, dass sich jeder Wirtschaftsfachmann die Finger danach lecken würde. Unsere Gesellschaft könnte sich zukünftig enorm handlungsschnell und anpassungsfähig präsentieren, denn hier werden Stärken und ausgeprägte Charaktereigenschaften mitgebracht über die wir momentan nicht verfügen können und müssen, die aber notwendig sein werden, betrachtet man das notwendige Wirtschaftswachstum in den nächsten Jahren um unsere Sicherungssysteme zu erhalten. Mit welchen Menschen hatte man denn angedacht dieses Wirtschaftswachstum zu erreichen? Die Flüchtlinge sind ein Geschenk. Natürlich entsteht am Arbeitsmarkt zunächst einmal eine neue Konkurrenzsituation. Natürlich wird dies weitere Ängste schüren. Natürlich wird es auf Seiten der Flüchtlinge faule Säcke geben, aber es ist ja nun auch nicht so, dass wir bisher nur hochproduktive Arbeitsmaschinen am Ende ihres Leistungszenits ins soziale Netz plumpsen ließen. Jay-Jay, du wirst das recherchieren, zu gegebener Zeit. Dann werden dir Wirtschaftsforscher*innen ganz logisch erklären können, wie die Flüchtlinge dazu beitrugen, dass Deutschland immer noch zu den Top- Wirtschaftsnationen gehört und wie sich alle gemeinsam dieses schier unglaublich hohe Maß an Wohlstand verdient haben. Nun ja, fast alle. Der wirtschaftliche Schaden, den die braunen Hackfressen anrichten, lässt sich ja nicht nur anhand von abgefackelten Unterkünften ablesen. Viel problematischer ist das Binden von Kräften, die eine schnelle Integration verhindern, was natürlich etwas paradox ist, da genau dies ja von den Dummköpfen gefordert wird. Zudem befeuert es das Wachsen einer schweigenden, skeptischen, unsicheren Menge. Das verlangsamt ein Zusammenwachsen und fördert die Entwicklung von Parallelgesellschaften. Das ist ein Problem. Vermutlich das größte. Vielleicht sollte man sich diesbezüglich deshalb beim Thema Integration auf das Minimum beschränken. Sprache halte ich für wichtig, denn man sieht an Seehofer und Konsorten, was alles mit deinem Wesen passieren kann, wenn man die deutsche Sprache nicht beherrscht. Ausserdem haben wir eine Verfassung und die ist nicht einmal schlecht. Mit dieser sollte man sich identifizieren können und darauf Werte entnehmen können für die man einstehen kann. Klingt schwieriger als es ist, können ja nicht einmal all diejenigen, die die deutsche Sprache sprechen. Landesspezifische Bildungsmaßnahmen für Jugendliche und Erwachsene. Das wäre hilfreich. Zunächst müssen wir vielleicht zuhören, aber dann müssen wir auch erzählen. Wissen und Erfahrungen teilen. Danach ist der Integrationsprozess für mich abgeschlossen. Wer dem IS entkommt, sich in grob stabilisierten Nussschalen über Meere schippern lässt, um sein Leben zu retten, für den finden wir sicherlich auch Arbeit. Wir könnten die Lehrer in Intensivsprachkurse schicken um wiederum bei den Sprachkursen für alle anderen Flüchtlinge zu helfen, sofortige Aufenthaltserlaubnisse und Arbeitserlaubnisse für Maurer*innen, Schreiner*innen, Elektriker*innen, Handwerker*innen, noch weit bevor man irgendwelches Traditionsgefasel ertragen muss, wären ebenfalls hilfreich. Wenn ich den Mist von Sitten und Gebräuche lese wird mir sowieso schwummerig.

Was spricht eigentlich gegen Diversität? Warum müssen wir Menschen in Schemata pressen? Wieso muss man sich an jemanden anderen anpassen. Den gibts doch schon. Mindestens einmal. Was spricht gegen eine freie Persönlichkeitsentwicklung bei Orientierung an unterschiedlichsten Kulturen und Religionen. Was macht diesbezüglich denn Angst?  Mir macht Angst, dass ausgerechnet eine Partei, die in 2015 noch Schwierigkeiten mit Homosexualität hat, mich über Werte belehren will. Wie genau sieht denn diese Leitkultur aus, an der es sich zu orientieren lohnen könnte? Muss ich dort beflaggt und mit Fahne einmal wöchentlich grölend durch die Straßen ziehen, weil ich Schiss habe, dass jemand der körperlich ausgelaugt, ohne Sprachkenntnisse und ohne Anerkennung seines Ausbildungsstandes mir morgen meinen Job wegnimmt? Muss ich mir dann von Konzernen, die zur Ausbeutung von Entwicklungsländern beitragen, etwas zum Thema Benehmen sagen lassen? Kann Anpassung auch darüber sichergestellt werden, dass ich auch mein karges Gehalt irgendwie ins Ausland bugsieren kann um Steuern zu sparen, wie das mehrere Unternehmen Jahr für Jahr mit Milliarden von Euros tun? Was muss ich wie oft in Brand stecken um Akzeptanz in der Gesellschaft zu finden?

Ich werde Gott sei Dank nie in die Situation kommen, fliehen zu müssen, aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass ich dann, wenn ich alles verloren habe, wenig Interesse, Sinn und Kraft verspüre, mich in eine Kultur pressen zu lassen, die in dem Land selbst von den Einheimischen nur von einer Minderheit gepflegt wird.

Lasst uns aktiver auf die Menschen zugehen, stellt fest, wie viel verdammt mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede es gibt, wie bereichernd die Einzigartigkeit des Einzelnen sein kann, wie befruchtend Vielfalt sein kann. Meine Vorstellungen von diversifizierter Integration sind vielleicht utopisch, aber was habe ich neulich von einem der besten Menschen, der Welt gelernt: „Viele Dinge sind utopisch und doch am Ende Realität“. Begegnungen mit Menschen können sehr erfüllend sein. Versprochen.

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