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Dieter Zeh war meiner Meinung nach der am meisten unterschätzte Physiker der Welt: Er war ein alter Mann und fischte allein in einem Boot im Multiversum, und seit sechsundachtzig Jahren hatte er keinen großen Physikpreis an Land gezogen. So heißt es im Nachruf von Spektrum der Wissenschaft, einem der wenigen Nachrufe, die über ihn erschienen, denn er war kein berühmter Mann und das obwohl wir ihm eine der größten Fortschritte im Verständnis unserer Welt des letzten Jahrhunderts verdanken.
Steckbrief: Dieter Zeh
Vollständiger Name: Heinz-Dieter Zeh
Geboren: 8. Mai 1932 in Braunschweig
Gestorben: 15. April 2018 in Freudenstadt
Berufsfeld: Theoretische Physik
Website: http://www.thp.uni-koeln.de/gravitation/zeh/index.html
Universität: Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Werke: The physical basis of the direction of time; Decoherence and the Appearance of a Classical World in Quantum Theory; Physik ohne Realität: Tiefsinn oder Wahnsinn?; Die Physik der Zeitrichtung; Der Abbau schwerer Kerne bei hohen Temperaturen; Entropie
Lebenslauf
1932: Geburt in Braunschweig
1962: Promotion mit einer Arbeit über die Erzeugung von Alpha-Teilchen
1964: Forschungsassistent am Caltech
1965: Forschungsassistent an der University of California
1966: Dozent an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
1967: Rückkehr an die University of California
1970: Einführung der Dekohärenz
1991: Durch einen Artikel in Physics Today werden Dieter Zeh und die Dekohärenz zumindest den meisten Physiker*innen bekannt
1999: Teilnahme an der Strings-Konferenz am Albert-Einstein-Institut
2012: Serge Haroches erhält für quantenmechanische Messungen, die eine detaillierte experimentelle Analyse der Dekohärenz ermöglichen, den Nobelpreis für Physik.
2018: Tod Dieter Zehs auf einer Urlaubsreise im Schwarzwald
Zitate
„Nach meinen Versuchen, sie zu verstehen, wird die Realität in der Kopenhagener Deutung systematisch geleugnet, um Konsistenzprobleme zu umgehen (z. B. Ist das Elektron wirklich eine Welle oder ein Teilchen?). Wenn es keine Realität gibt, braucht man keine konsistente Beschreibung!“
Dieter Zeh
“Es ist schon merkwürdig und bezeichnend für die gegenwärtige Situation der Physik, dass man ein Verschwinden von „Information“ bei der Zerstrahlung Schwarzer Löcher als Paradoxon diskutiert, während man im Labor einen Kollaps der Wellenfunktion ständig und bereitwillig akzeptiert.”
Dieter Zeh
„Noch immer sind viele Physiker davon überzeugt, das Teilchen in einer Wolkenkammer oder auf einem Szintillationsschirm zu „sehen“, und akzeptieren daher klassische Teilchenkoordinaten als Teile der Realität. Was man jedoch zu dem Schluss kommt, hängt vom gewählten Realitätsmodell ab, und dieses Modell kann nur an seinem Erfolg bei der konsistenten und wirtschaftlichen Beschreibung der Beobachtungen (also Interpolation zwischen ihnen) gemessen werden.“
Dieter Zeh
Lebenswerk
Ich bin mit 15 Jahren noch nicht sehr alt. Dennoch habe ich bereits in dieser Zeit dramatische Veränderungen und Entwicklungen miterlebt: Plötzlich schneit es im Winter kaum noch, im Sommer wird es an immer mehr Tagen zu warm zum Arbeiten. Immer öfter sieht man Bildschirme, an der Auskunft der Deutschen Bahn spricht man plötzlich mit einem Roboter, das Telefon verfolgt während einer Pandemie die Kontakte. Ich habe Sonnenfinsternisse und Mondfinsternisse, Kometen und große Konjunktionen gesehen, aber ich musste auch sehen, wie Nazis wieder in Parlamenten und Talkshows Einkehr hielten. Worauf ich hinaus will? Auch in meinem Alter erkennt man durchaus, dass die Menschheit ständig eine rasende Entwicklung durchmacht.
Nur in der theoretischen Physik, da sah es irgendwie ein bisschen anders aus. Ich hörte und las von den Errungenschaften des letzten Jahrhunderts: Innerhalb weniger Jahre wurde unser Weltbild mit Relativitätstheorie und Quantenmechanik vollständig gestürzt und neu errichtet: Kernspaltung, neue Atommodelle und Elementarteilchen, die Entdeckung Schwarzer Löcher und der Expansion des Universums.
Meine früheste Erinnerung an einen wirklich historischen Moments in der Physik zu meinen Lebzeiten hingegen ist die Entdeckung des Higgs-Bosons am LHC in der Schweiz, danach kam die Detektion von Gravitationswellen – doch insgesamt hatte ich schon das Gefühl, dass ich in einer Zeit ziemlichen Stillstands in der Physik lebe. Das änderte sich mit Dieter Zeh, bzw. mit dem, was Dieter Zeh entdeckte.
Mein erstes größeres wissenschaftliches Buch, welches unter anderem das Thema Quantenmechanik behandelt, war Der Stoff, aus dem der Kosmos ist von Brian Greene – eines der besten Bücher, das ich je gelesen habe. Jedenfalls war in diesem Buch, genauso wie in den Schulbüchern, die meine älteren Kolleg*innen aus dem Forschungszentrum studieren mussten, vom sogenannten quantenmechanischen Messproblem als letzter großer unvollständiger Teil der Quantenmechanik die Rede – da wird man natürlich erstmal hellhörig.
Tatsächlich ist das Problem nicht schwer zu erfassen. Es geht um folgendes: Ein Quantensystem hat eigentlich keinen bestimmen Aufenthaltsort, sondern lediglich Aufenthaltswahrscheinlichkeiten. Damit ist nicht gemeint, dass sich das entsprechende Teilchen an einem Ort befindet, wir diesen aber nicht kennen und nur Wahrscheinlichkeiten angeben können – die Aufenthaltswahrscheinlichkeit ist in dieser Hinsicht die einzige Eigenschaft, die das Teilchen trägt. Es hat keinen bestimmten Ort. Das kann man nicht verstehen, aber man kann es akzeptieren.
Diese Aufenthaltswahrscheinlichkeiten werden nun durch die sogenannte Wellenfunktion, auch Wahrscheinlichkeitswelle genannt, beschrieben. Man kann sich das gut veranschaulichen: An den Orten, an denen die Wahrscheinlichkeitswelle eines Teilchens höher ist, bzw. wo die Wellenfunktion einen höheren Wert annimmt, an diesen Orten befindet es sich mit größerer Wahrscheinlichkeit, an Orten, an denen die Welle flacher ist, mit geringer Wahrscheinlichkeit und dort, wo die Welle gänzlich flach ist, befindet sich das Teilchen gar nicht. So weit, so gut.
Nun entspricht dies aber natürlich gar nicht dem, was wir in der Alltagswelt sehen: Jedes Objekt hat genau einen Ort, es befindet sich nicht an unterschiedlichen Orten gleichzeitig. Das bedeutet, wenn wir nachschauen und das System beobachten, muss sich dieser seltsame Wahrscheinlichkeitszustand auflösen, die Wahrscheinlichkeitswelle muss kollabieren und an allen Orten den Wert null annehmen, außer an einem – das ist dann der Ort, an dem wir das Teilchen vorfinden. Wenn wir das nun wiederholen, dann wird das Teilchen an den Orten, an denen die Wahrscheinlichkeitswelle zuvor höher war, auch öfter zu finden sein. Das alles besagt die sogenannte Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik.
Diese Interpretation wurde wesentlich von den beiden Physikern Niels Bohr und Werner Heisenberg entwickelt und setzte sich sehr schnell durch. Vor allem Einstein, der auf jeder Physiker*innenkonferenz eine neue Idee vorstellte, wie er die Quantenmechanik widerlegen könne (die dann immer noch am selben Abend von Niels Bohr in der Luft zerrissen wurde) trug durch seine fehlerhafte Kritik wesentlich dazu bei, dass es bald hieß „Kopenhagener Deutung oder gar nichts“, es war wirklich karrieregefährdend für eine*n Physiker*in, für eine alternative Interpretation der Quantenmechanik einzustehen, diese wurden im besten Fall als „Philosophie, nicht aber Wissenschaft“ abgetan.
Doch die Kopenhagener Deutung hatte trotz dessen auch Kritiker. Häufig symbolisiert wird das mit einem Gedankenexperiment des Physikers Erwin Schrödinger, nämlich mit Schrödingers Katze. In diesem Gedankenexperiment sitzt eine Katze mit einem radioaktiven Präparat und einer tödlichen Menge Gift, die beim Zerfall des Präparats freigesetzt wird, eingesperrt in einem Karton. Wenn das Präparat also zerfällt, stirbt die Katze – keine Sorge, Schrödinger hat das Experiment nie in die Praxis umgesetzt.
Das Problem wird jedoch nun sehr deutlich: Da das Präparat den Gesetzen der Quantenmechanik gehorcht, ist es nicht eindeutig, ob es zerfällt, sondern es zerfällt nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit – es zerfällt also und gleichzeitig zerfällt es auch nicht. Daraus würde jedoch resultieren, dass die Katze gleichzeitig tot und lebendig ist, bzw. zu einem gewissen Teil tot und zu einem gewissen Teil lebendig. Das ergibt natürlich gar keinen Sinn. Was Schrödinger damit sagen wollte: Die Mathematik (die er übrigens selbst aufstellte) erlaubt keinen Kollaps der Wahrscheinlichkeitswelle bei einer Messung.
Das entspricht nach etwas Nachdenken auch irgendwie wieder unserer Intuition. Wieso sollte dem Messprozess in der Natur eine so fundamentale Bedeutung innewohnen? Wenn es keine Menschen gäbe, bliebe dann alles für immer im Quantenzustand? Verschwindet der Mond spontan, wenn niemand hinguckt? Dieser Widerspruch, diese Lücke in der Kopenhagener Deutung, wurde als quantenmechanisches Messproblem bezeichnet und ich zerbrach mir lange den Kopf darüber, ohne zu wissen, dass eine Lösung längst existiert – ganz einfach, weil alle nach wie vor von einem ungelösten Problem sprachen.
2018, kurz nach Dieter Zehs Tod, begann dann eine Vortragsreihe zur Quantenmechanik an meinem Forschungszentrum und dort war ich natürlich Stammgast. Es ging unter anderem um Alternativen zur Kopenhagener Deutung, denn die gab es tatsächlich schon lange zuhauf. Die wohl populärste ist die Viele-Welten-Interpretation, die vom US-amerikanischen Physiker Hugh Everett III eingeführt wurde. Demnach kollabiert beim Prozess der Messung in Wahrheit gar nichts, jedes mögliche Resultat wird verwirklicht, nur in einem eigenen Universum. Alles, was sein kann, ist also auch irgendwo.
Das hat durchaus Vorteile, die man nicht verschweigen sollte. Die Viele-Welten-Interpretation kann unser subjektives Empfinden erklären, dass bei all den vielen möglichen Zuständen scheinbar komplett zufällig aus einem das Ergebnis resultiert: Es ist der, der in unserem Universum resultiert, das ist nichts Besonderes, denn in ebenso vielen anderen Universen ist es anders gekommen. Wenn also das Präparat in der Kiste gleichzeitig zerfällt und nicht zerfällt, dann spaltet sich das System auf, in einem Universum ist die Katze tot, in einem lebendig. In welchem wir leben, das entscheidet sich gänzlich zufällig und wir werden es sehen, wenn wir die Kiste öffnen. Es kollabiert hier also gar keine Wellenfunktion.
Dennoch war mir diese Interpretation von vornherein suspekt: Ich habe eine Skepsis, die man vielleicht als voreilig bezeichnen könnte, gegen alle Theorien, welche die Existenz paralleler Universen voraussetzen. Die Konsequenz, dass alle möglichen Zustände auch irgendwo realisiert sind, passt mir auch gar nicht: Spätestens in dem Moment, in dem ich realisierte, dass gemäß Viele-Welten-Interpretation irgendwo eine Kopie meiner Person existiert, die auf Listenplatz 3 für die AfD kandidiert, schien mit das ganze doch etwas sehr abwegig und ich kehrte wieder zu Bohr und Heisenberg zurück.
Dann jedoch machte ich Bekanntschaft mit der Dekohärenz von Dieter Zeh. Er entwickelte sie ebenfalls unter Einfluss der Viele-Welten-Interpretation, denn auch er schätzte deren Vorteile, war aber auch nicht zu 100% überzeugt von ihr. Also entwickelte er einfach ein eigenes Konzept zur Lösung des quantenmechanischen Messproblems, gar eine ganz eigene Interpretation der Quantenmechanik, bei der er auf ein weiteres Schlagwort der Quantenphysik zurückgriff, die Quantenverschränkung.
Quantenverschränkung ist wirklich ein sehr rätselhaftes Phänomen, weit auseinander liegende Elemente eines Quantensystems können dabei ohne Zeitverzögerung wie von Geisterhand zusammenhängen und kommunizieren. Wenn ihr beispielsweise zwei verschränkte Elektronen habt, dann befinden sich diese zunächst in einem verschwommenen Quantenzustand ohne eindeutige Eigenschaften. Messt ihr nun aber bei einem Teilchen beispielsweise den Spin, also den Drehimpuls, und messt +0,5, dann nimmt das verschränkte Partnerteilchen ganz sicher den Wert -0,5 an und zwar im selben Moment – selbst wenn sich das andere Teilchen am anderen Ende des Universums befindet. Mit diesem Verfahren gelingt uns sogar bereits das Beamen einzelner Teilchen.
Dieter Zeh hat nun einen wirklichen Paradigmenwechsel vollzogen, er hat folgendes postuliert: Ein Quantensystem verliert seine Quanteneigenschaften nicht durch den Kollaps der Wellenfunktion im Moment der Messung, sondern durch die Verschränkung mit seiner Umgebung. Je isolierter das System dabei ist, desto länger behält es in der Regel seine Quanteneigenschaften. Schrödingers Katze zeigt sich also nie im Mischzustand, da sie ihre Quanteneigenschaften durch die Wechselwirkung mit der Umgebung unglaublich schnell verliert. Die unterschiedlichen möglichen Zustände können dabei fortexistieren, sie sind aber entkoppelt, beeinflussen sich also nicht mehr, wodurch keine Interferenzen mehr auftreten.
Elektron | Staubpartikel | Bowlingkugel | |
UHV (300 K) | 10 Sekunden | 100 Mikrosekunden | 0,01 Nanosekunden |
Kosmische Hintergrundstrahlung | 31,7 Jahre | 100 Nanosekunden | 0,001 Femtosekunden |
Irdische Bedingungen | 31,7 Jahre | 0,1 Nanosekunden | 0,001 Femtosekunden |
Diese Tabelle zeigt, wie lang jeweils ein freies Elektron, ein Staubkorn (Durchmesser von 10 µm) und eine Bowlingkugel benötigen um sich im Ultrahochvakuum, unter Bedingungen der kosmischen Hintergrundstrahlung oder unter denen der Erde mit ihrer Umgebung zu verschränken und somit ihre Quanteneigenschaften zu verlieren. Wie man sieht, verhalten die Dekohärenzzeiten nicht gänzlich regelmäßig, das erkannte Dieter Zeh bereits gemeinsam mit dem Phyiker Erich Joos als er begann, diese grob abzuschätzen.
Damit liegt für das quantenmechanische Messproblem, das letzte große Rätsel der Quantenmechanik, eine Lösung auf dem Tisch, eine unglaublich elegante sogar: Nicht der Mensch ist es, dessen Beobachtung Wirklichkeit schafft, die Natur schafft sich selbst, sie konstruiert die Wirklichkeit durch Wechselwirkung ihrer Elemente untereinander. Oder wie der griechische Philosoph Plotin es schon im dritten Jahrhundert nach Christus (!) formulierte:
„Die Natur hat ein Schauen in sich, und das was sie erschafft, erschafft sie wegen des Schauens.“
Plotin
Es ist kaum zu hoch einzuschätzen, was Dieter Zeh hier erreicht hat: Dieter Zeh hat herausgefunden, wie aus der zweifelsohne korrekten Quantenmechanik das entsteht, was wir Wirklichkeit nennen und damit hat er die Quantenmechanik endgültig vollendet – sein Beitrag ist mindestens als gleichwertig mit denen Bohrs, Heisenbergs und Wolfgang Paulis, meiner Meinung nach vielleicht sogar noch wichtiger. Doch er hat nie vergleichbare Berühmtheit erreicht. Das liegt sicherlich auch daran, dass er einige Fehler gemacht hat.
Auf Kritik hat er nie besonders zimperlich reagiert, es dauerte bis man mit ihm eine aufgeschlossene wissenschaftliche Diskussion führen konnte. Seine Kritik ist hingegen häufig fast schon in Polemik ausgeartet. Auf der Strings-Konferenz am Albert-Einstein-Institut im Jahre 1999 etwa kritisierte er die sogenannte M-Theorie, eine Erweiterung der Stringtheorie und einem Wissenschaftler, der mit ihm darüber diskutieren wollte, entgegnete er: „Sie müssen vielleicht ein bisschen geduldiger lesen„. Wer also zu einem anderen Schluss kam als er, hat seiner Meinung nach die ganze Faktenlage noch nicht richtig überblickt…
Des weiteren gab Dieter Zeh einem „wissenschaftlichen“ Buch, das man wohl nur als unverschämte Verschwörungsideologie bezeichnen kann, eine positive Empfehlung, nämlich Vom Urknall zum Durchknall von Alexander Unzicker. Ein Kapitel dieses Buches heißt beispielsweise:
„Stringtheoretiker und andere Religionsanhänger. Oder: von der Elite zur Sekte zur Mafia“
Aus „Vom Urknall zum Durchknall“
Darin werden bedeutende Stringtheoretiker wie Edward Witten und Brian Greene persönlich angegriffen und physikalische Prinzipien mit politischen Ideologien verbunden, so sei die Stringtheorie:
„verknöchert wie die DDR unter den Lobpreisungen der Honeckers“.
Aus „Vom Urknall zum Durchknall“
Ich bin selbst eher String-Kritiker, aber diese Äußerungen sind unter Wissenschaftler*innen inakzeptabel. Es folgt noch einiges anderes an Quatsch, Unzicker nutzt zahlreiche ableistische Metaphern und „wettet“ gegen die Entdeckung des Higgs-Bosons, das zwei Jahre nach Veröffentlichung des Buches am LHC nachgewiesen wurde. Zum Glück gibt es aber tapfere Menschen, die sich sowas für eine Rezension durchlesen, Florian Freistetter zum Beispiel. Wieso derselbe Dieter Zeh, der Versuche der Homöopathie-Lobby, ihn vor ihren Karren zu spannen, immer konsequent Einhalt geboten hat, sowas lobt, das weiß niemand.
Der Hauptgrund dafür, dass Dieter Zeh heute keine Prominenz ist, war jedoch wohl ein anderer, nämlich einfach, dass er seiner Zeit voraus war. Niemand konnte sich eine quantenmechanische Interpretation jenseits der Kopenhagener Deutung so wirklich vorstellen. Ein Kollege Dieter Zehs namens Berthold Stech bringt es wohl auf den Punkt:
„Wir haben einfach nicht verstanden, was er gemacht hat.“
Berthold Stech
Das brachte ihn unter enormen Druck und um sich zu rechtfertigen, scheute er kein Mittel, häufig publizierte er beispielsweise einfach auf seiner eigenen Website, die… nun ja, seht sie euch hier einfach an. Aber aufgrund mangelnder Wahrnehmung in der Öffentlichkeit sah er sich auch gezwungen, nicht wählerisch zu sein und veröffentlichte Artikel in Zeitschriften, die durchaus eine Nähe zur Esoterik hatten, beispielsweise Epistemological Letters – obwohl er selbst natürlich nie Esoteriker war oder Tendenzen in diese Richtung aufwies.
Das Ansehen der Dekohärenz und auch Dieter Zehs wurde nicht besser als man allmählich begann, ihre philosophischen Folgen zu verstehen. Die Quantenphysik gewinnt damit radikal an Bedeutung, denn die Dekohärenz, die grundsätzlich als Quantenprinzip zu verstehen ist, gilt für alle physikalischen Systeme. Die Abgrenzung zwischen klassischer Physik für makroskopische Objekte wie Sterne und Planeten und Quantenphysik für mikroskopische Objekte wie Atome und Moleküle existiert nicht: Nicht die Größe bestimmt darüber, welche Gesetze gelten, sondern die Frage, wie gut das Objekt von seiner Umgebung isoliert ist und Objekte wie Katzen, Sterne oder Planeten sind nun mal nicht isoliert und daher treten keine Quanteneigenschaften auf.
Wir sehen also, dass die Dekohärenz alles, was die Physik jemals beschäftigt hat, zu oberflächlichen Erscheinungsformen degradiert. Die kleinsten Teilchen, die größten Galaxienhaufen, jeder Geschmack, Geruch und jedes Gefühl, ja nicht einmal die Zeit ist real, sie sind Illusionen. Nur der zeitlose Quantenkosmos ist real. Dagegen erscheinen alle vergangenen wissenschaftlichen Revolutionen nichtig und klein und es ist wohl verständlich, dass die Wissenschaft noch etwas Zeit benötigen wird, um den Umfang der Auswirkung der Dekohärenz voll zu begreifen. Doch langsam beginnen wir damit.
So ist es nach Dieter Zehs Theorie denkbar, dass nicht einmal unser Universum isoliert, sondern Teil eines gigantischen Multiversums ist. In dieser Hinsicht ist es vorstellbar, dass es unendlich viele Universen gibt, die wie Blasen durch den Quantenkosmos treiben. Damit sind wir wieder bei Everetts „Vielen Welten“ angekommen. Doch ob es diese wirklich gibt, das wissen wir nicht und vielleicht werden wir es nie erfahren – Dieter Zeh selbst ist nicht ganz davon überzeugt.
Aber auch in das Fachgebiet der Schwarzen Löcher bringt die Dekohärenz frischen Wind, die theoretischen Physiker Yasunori Nomura und Sean Carroll beschäftigen sich etwa damit, denn es gibt natürlich gewisse Parallelen zwischen der scheinbaren Vernichtung von Informationen Schwarzer Löcher und dem Kollaps der Wellenfunktion als ebenfalls irreversibler Vorgang.
Man kann natürlich noch viel weiter spekulieren, wenn verschiedene Universen im Quantenkosmos nicht isoliert, sondern verschränkt sind, könnten hier Einsteins Wurmlöcher wieder auftauchen? Nicht ausgeschlossen, namhafte Physiker wie Nomura, Max Tegmark, Raphael Bousso und Leonard Susskind beschäftigen sich aktuell damit. Es ist spekulativ, aber eine mögliche Auslegung der am besten experimentell überprüften Theorie der Wissenschaftsgeschichte.
Und vielleicht sollte man Gedankengängen auch einfach mal blind vertrauen und sich von alten Vorstellungen lösen, das hat Dieter Zeh sicherlich bedingungslos getan. Hätte Einstein seinen Gleichungen vertraut und daraus den Schluss gezogen, dass unser Universum expandiert, statt eine kosmologische Konstante einzuführen, wäre er mit Abstand als bedeutendster Physiker aller Zeiten in die Geschichte eingegangen.
Hätten die Naturforscher der Renaissance ihren astronomischen Beobachtungen vertraut und daraus den Schluss gezogen, dass die Erde sich um die Sonne dreht, statt sich in Epizyklen auf Epizyklen zu verirren, hätten wir viele Jahrzehnte Entwicklung überspringen können. Aber all diese Forscher*innen haben ihre Thesen nicht radikal genug verfochten, wenn sie zu Schlussfolgerungen führen, die aus damaliger Perspektive zu verrückt waren.
Vielleicht sollten wir aus deren Fehlern lernen. Wenn alles darauf hindeutet, dass unsere Welt nicht real, sondern nur ein Erzeugnis der Dekohärenz ist, dann sollten wir dies akzeptieren und die Dekohärenz nicht als mathematische Spielerei betrachten, was viele Dieter Zehs Überlegung entgegneten. Wenn wir Fossilien auf der Erde finden, sagen wir ja schließlich auch nicht: Dinosaurier sind nur unser archäologisches Modell, um Vorhersagen über Fossilien treffen zu können. Wir gehen selbstverständlich davon aus, dass Dinosaurier wirklich existierten.
Dass die Dekohärenz tatsächlich ein Element unserer physikalischen Realität ist, zeigt sich schon durch die Anwendungen in der Technologie, denn sie ist ganz entscheidend für den Bau von Quantencomputern, der momentan massiv voranschreitet – Quantencomputer sind eine der Schlüsseltechnologien des 21.Jahrhunderts und für sie ist die Dekohärenz ein echtes Problem, denn hier ist man auf die quantenmechanischen Überlagerungszustände angewiesen.
Statt nur die binären Zustände null und eins zu nutzen wie ein klassischer Rechner, werden beim Quantencomputer auch die Überlagerungen dieser genutzt und daher ist es dort wichtig, diese durch Isolation so lange wie möglich aufrecht zu erhalten. Quantencomputing wird uns Dinge ermöglichen, die wir uns jetzt noch nicht einmal vorstellen können.
Wenn man das so hört, ist es schon irgendwie traurig, dass Dieter Zeh den Durchbruch der Dekohärenz – und der wird ganz sicher kommen – nicht mehr erleben wird. Doch er würde es vermutlich gelassen sehen, denn sollte es unendlich viele Universen geben, dann existieren unendlich viele Kopien unserer Welt und auch unendlich viele Welten, auf denen die Geschichte anders verlaufen ist. Und in zahlreichen dieser Welten hat Dieter Zeh vielleicht die ihm gebührende Anerkennung erhalten.