Autisten selbst sind die besten Experten für Autismus. Umso mehr freuen wir uns, wenn wir engagierte Autistinnen und Autisten finden, die uns helfen mit Vorurteilen rund um Autismus-Spektrum-Störungen aufzuräumen.
„Autoren sollten dort hin reisen wo ihre Handlungen spielen. Zum Glück schreibe ich über menschliche Abgründe. Die liegen so nah.“
Das sind Worte von Marlies Hübner, die ich für die dritte Ausgabe der „Interviews mit Experrten für Autismus“ gewinnen konnte. Sie ist Autorin des Buches „Verstörungstheorien- Die Memoiren einer Autistin, gefunden in der Badewanne“.In Ihrem Blog lassen sich wichtige und lesenswerte Artikel über die Notwendigkeit von Inklusion, Autismuskompetenz in der Politik und über Gewalt gegen Menschen mit Behinderung finden.
Hallo, magst du dich vielleicht kurz vorstellen?
Hej, mein Name ist Marlies, ich bin Autorin, blogge außerdem auf robotinabox.de sowie autismusfaq.de und lebe in Wien.
Danke, dass du dir die Zeit nimmst. Wann und wie hast du das letzte Mal deine Behinderung als ein Problem wahrgenommen?
Jedes Mal, wenn ich das Haus verlasse. Die Welt ist voller Barrieren und Hindernisse, und ich muss sehr viel Energie aufwenden, halbwegs in ihr zurechtzukommen. Aber es liegt nicht in meiner Natur, einfach aufzugeben.
Wann ist zuletzt, und vielleicht kannst du ein konkretes Beispiel beschreiben, der Umgang der Gesellschaft für dich in Verbindung mit deiner Behinderung zum Problem geworden?
Es sind die Vorurteile sowie der Unwille zur Inklusion, die mich meine Behinderung am deutlichsten spüren lassen. Dass Inklusion kein Gnadenakt, sondern ein Menschenrecht ist, hat sich noch nicht allzu weit herumgesprochen.
Was würdest du Eltern mit auf den Weg geben wollen, deren Kind mit Autismus diagnostiziert wurde?
Für die Eltern ist der Weg von den ersten Problemen bis zur Diagnose des Kindes oft ein schwerer und belastender Weg. Mit pauschalen Ratschlägen ist es nicht getan. Ich will ihnen so viel sagen, will ihnen erzählen, dass es schwer, aber auch schön wird, für sie und das Kind. Will ihnen mitgeben, dass sie auf viele Hindernisse stoßen werden, aber doch eine Familie sind, die das Potenzial hat, all das zu schaffen. Ich will ihnen raten, auf sich zu achten, denn sie sind mehr als Eltern und sie brauchen Pausen und Regeneration. Und all das reicht doch lange noch nicht.
Was macht dich glücklich?
Kreativ arbeiten zu können, was in meinem Fall heißt, schriftstellerisch tätig sein zu dürfen.
Wasser.
Kunst.
Was nervt dich?
Dass wir in Sachen Inklusion scheinbar Rückschritte machen, statt uns dem Ziel zu nähern, und Behinderung uns noch immer zu Menschen zweiter Klasse macht.
Was ist dein Lieblingsfilm und warum?
Ich bevorzuge das Arthouse-Kino und Indie-Produktionen, und die Liste der Filme, die ich sehr mag, würde jeden Rahmen sprengen. Der letzte, den ich sah und wirklich empfehlen kann, ist der Film „Jahrhundertfrauen“ des herausragenden Regisseurs Mike Mills.
Beende diesen Satz: „Der Film Rain Man ist …..“
… ein Film, der der Aufklärung über Autismus meines Erachtens mehr schadet als nutzt.
Für was engagierst du dich?
Vor allem für Menschen mit Behinderung und für Feminismus. Beides sind zentrale Themen in meinem Leben.
Kläre mich bitte auf, ich lese immer wieder etwas von der Autismus-„Wunderheiltherapie“ ABA? Was hat es damit auf sich?
Das ist eine ambitionierte Frage. Ich kann über derart komplexe, sich ständig im Wandel befindende Methoden wie ABA nicht in drei Sätzen aufklären. Wichtig ist, dass Eltern selbst ein Gefühl dafür bekommen, was ihren autistischen Kindern nutzt und was ihnen schadet. So können sie verantwortungsvoll entscheiden:
- Hat die Therapie oder Lernmethode zum Ziel, das autistische Kind anzupassen?
- Soll es möglichst unauffällig und neurotypisch werden und sich wie ein nichtautistisches Kind entwickeln?
- Kommen Heilsversprechen darin vor?
- Wird mit behavioristischen Methoden gearbeitet?
- Entspricht die Anwendungszeit einem Vollzeitjob und wird das Umfeld dazu herangezogen?
- Wird ein Mittel empfohlen oder eine Diät beschrieben, die von der Schulmedizin nicht empfohlen wird?
- Sprechen sich Autist*innen dagegen aus?
Wenn nur eines davon zutrifft, dann sollten sie unbedingt Abstand nehmen, denn was dort angeboten wird, ist nicht im Sinne und zum Wohle des autistischen Kindes.
Welchen Blog empfiehlst du Eltern von autistischen Kindern, um sich zu informieren und um möglichst selbst zu Experten für Autismus zu werden?
Unbedingt empfehlenswert ist http://ellasblog.de.
Vor welcher unsinnigen Aussage, die man den Medien oft entnimmt oder die falsche Autismus-Experten verbreiten möchtest du Eltern von autistischen Kindern warnen?
Auch hier müsste man eine schier endlose Liste einfügen. Eine Aussage von Frau Dr. Inge Kamp-Becker beschäftigt mich derzeit besonders. Sie reduziert Autismus auf den Aspekt des Leidens und warnt deutlich vor den Aussagen von in der Öffentlichkeit stehenden Autist*innen, die aufzeigen, dass man auch mit Autismus ein zufriedenes, glückliches Leben haben kann und sollte – so wie jeder andere Mensch auch.
Aussagen wie jene von Frau Kamp-Becker erklären das Leben von Autist*innen zu einem reinen Unglücksfall. Sie verweigert ihnen damit ein gleichberechtigtes Leben mit dem Anspruch auf Lebensqualität und befeuert ein nicht mehr zeitgemäßes Wohlfahrtsmodell, das auf Abhängigkeit und Unselbstständigkeit beruht.
Dass der Aspekt des Leidens in der Regel durch die Umwelt entsteht, ist dabei besonders perfide, mit derartigen Worten rechtfertigt sie die schlechte Behandlung von autistischen Menschen und plädiert dafür, das nicht zu ändern. Das ist ein schrecklich antiquiertes Weltbild, das ich ablehne.
Marlies auf Vimeo. Wortlos aussagekräftig.
Auf Twitter kann man ihr ebenfalls unter @outerspace_girl folgen.
Du bist Experte für Autismus, selbst Autist/in und möchtest deine Perspektive mitteilen. Dann kontaktiere uns via wochenendrebell (ät) wochenendrebell.de