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Familienregeln

Statue der Justitia

„Das Problem unserer Zeit ist, dass alle Menschen, die die Macht haben, diese Welt zu verändern, diese Macht dem jetzigen Zustand der Welt verdanken und sie gar nicht ändern wollen.“, das ist ein Auszug einer Rede, die ich im Februar 2020 hielt, und zwar bei der Wahl unseres Familienvorsitzes. Das mag seltsam klingen und es war tatsächlich ein sehr langer Weg dorthin, der Weg zur ersten demokratischen Wahl den Wochenendrebellen.

Die ersten Familienregeln bei uns gab es sehr früh, aber sie waren hierarchisch geprägt, eine Phase, auf die heute niemand mehr stolz ist:

Es gab eine Art Bewertungssystem, finanzielle Leistungen wurden an Bedingungen geknüpft. Für Verhalten, das der Meinung der Eltern nach richtig ist, gab es grüne Punkte, für „falsches“ Verhalten rote Punkte – der Endpunktestand entschied dann über verschiedenste Leistungen, etwa Weihnachtsgeschenke, so wurde es zumindest kommuniziert – eine festgelegte Ungerechtigkeit. Mittlerweile ist diese Phase aber sauber aufgearbeitet worden.

Jedenfalls ist klar, dass solche Familienregeln nicht lange Bestand haben können. Sie erheben die Vorstellungen zweier Menschen, die zufällig schon ein bisschen länger leben zum non-plus-ultra. Gerechtigkeit hingegen bedeutet, jeden an seinen Fähigkeiten zu messen, aber nach seinen Wünschen zu behandeln. So boykottierte ich das Punktesystem, protestierte lautstark dagegen und nach etwa einem Jahr voller Chaos war es so weit, dass die Wochenendrebellen an einem Tisch saßen und über die zukünftige Ordnung verhandelten – über die Familienregeln, die in Zukunft gelten sollten, und zwar für alle gleicher Maßen.

Am Anfang sollte die Gleichheit aller Menschen stehen, niemand sollte sich über jemand anders erheben und ihm aus einer puren Laune heraus Vorschriften machen können. Dennoch natürlich braucht es Vorschriften, denn nur durch vorsichtige Einschränkungen der Freiheit lässt sich die Freiheit anderer Menschen schützen und wahren, häufig auch die der Menschen der Zukunft.

Zum Glück haben wir in unserer Familie einen recht engen Freiheitsbegriff. Fünf Mal in der Woche Fleisch essen, mit dem Auto in die Stadt fahren, anderen ins Gesicht husten dürfen, das gilt bei uns nicht als Freiheit – und das verdanken wir dem Familiären Parlament. Es ist das grundlegende Organ unserer Familienregeln und besteht aus allen Mitgliedern der Familie, jeder hat eine Stimme, die genau das gleiche Gewicht haben.

Um neue Familienregeln zu beschließen, benötigt es eine absolute Mehrheit, um Familienregeln zu beschließen, die andere einschränken, benötigt es sogar eine einstimmige Mehrheit. Wann ein Gesetz eine einstimmige Mehrheit benötigt entscheidet auf Anfrage der Familiäre Gerichtshof, der vom Familienvorsitzenden nominiert und vom Parlament bestätigt wird.

Es ist ein ausgeklügeltes System und hat sich fest etabliert, es bildet die Grundsätze des familiären Zusammenlebens und noch mehr: Nur durch diese Basis ist es uns möglich, die Werte von Gleichheit und Gerechtigkeit als Wochenendrebellen auch nach außen zu tragen und mit aller Kraft gegen die Klimakatastrophe, gegen Nazis und für die Befreiung aller Menschen auf der Welt zu kämpfen.

Doch natürlich gab es auch schlechtere Zeiten: Es gab einen Austritt in Folge der mittlerweile sehr radikalen Umweltgesetze, sie schreiben jedem genau vor, was er essen darf und was nicht, wie viel Auto er fahren darf, wo er nicht hinfahren darf und vieles mehr. Es gibt keine getrennten Finanzhaushalte mehr, die gesamte Wirtschaftsleistung der Familie fließt in einen gemeinsamen Topf, auf den alle das gleiche Anrecht haben. Nur das Parlament ist in der Lage, große Investitionen daraus zu tätigen.

Ende 2019 haben wir uns an die Entwicklung eines Wahlrechts gemacht, auch hier sollte eine freie und gleiche Wahl stattfinden, zum ersten Mal überhaupt gab es eine geheime Wahl, ansonsten sind Geheimnisse in unserer Familie streng verboten. Jeder hat sogar eine Tracking-App auf seinem Handy, mit der jeder jeden anderen orten kann. Briefgeheimnis und Privatsphäre sind bei uns aufgehoben.

Nun ja, nach meiner Rede gewann ich die Wahl mit einem Ergebnis, wie man es sonst nur vom Pekinger Volkskongress kennt, 100% bei 75% Wahlbeteiligung, weil meine Schwester es vorzog, eine ungültige Stimme abzugeben, als mich zu wählen. Ich habe Finanz-, Jusitz-, Kultus- und Umweltministerium nominiert und die Regierung hat inzwischen die Arbeit aufgenommen.

Natürlich befindet sich die Familienvereinbarung aufgrund der COVID-19-Pandemie in einer besonderen Situation, erstmals in der Geschichte wurde der Notstand ausgerufen, der Familienvorsitz darf nun per Dekret regieren, das Parlament ist entmachtet und aufgelöst. Ausgangssperre, strenge Maskenpflicht und familieninterne Hygieneauflagen gelten und natürlich regte sich auch hier Widerstand. Doch das muss eine Demokratie verkraften können, Abstimmungsergebnisse werden mittlerweile von jedem hingenommen.

In Zukunft ist einiges geplant. Etwa soll ein Social Credit Score eingeführt werden, Engagement, umweltfreundliches Verhalten, Hilfe für andere Menschen und Arbeit im Haus geben Pluspunkte, ein luxuriöser Lebensstil, ein hoher Energieverbrauch oder ein Verstoß gegen ein sonstiges Gesetz geben Minuspunkte. Alles wird aber stets durch das Parlament beschlossen, der Social Credit Score wird kein Machtinstrument oder an die Vorstellungen einzelner Personen gebunden sein.

Zudem wird es ein Klimakonto geben, jedem Familienmitglied wird ab 2025 nur noch ein Ausstoß von 2,3 Tonnen CO2-Äquivalenten pro Jahr zustehen. Das entspricht einer Nettonull, da dies die Menge ist, die durch Wälder, Böden und Meere pro Jahr gebunden werden kann. Wir alle müssten also auf diesen Wert kommen, um die Klimakatastrophe aufzuhalten. Derzeit sind wir in Deutschland bei etwa neun Tonnen, unsere Familie bei etwa fünf Tonnen. Es ist also noch ein langer Weg, aber wir werden es schaffen. Wir haben ja keine andere Wahl.

Das ist jedoch nicht unser einziger Anspruch, denn der Glaube daran, dass alle Familien es uns gleich tun werden ist tot und begraben. Selbst Hitzewellen, Pandemien, sinkende Städte und brennende Kontinente haben es nicht geschafft, uns von alleine zum Umdenken zu zwingen und wenn die Auswirkungen wesentlich stärker werden, wird es bereits zu spät sein.

Zudem haben wir gelernt, wie unglaublich schwierig es ist, seine CO2-Emissionen zu reduzieren und das größte Stück liegt sogar noch vor uns. Es ist völlig ausgeschlossen, dass das alle Familien auf sich nehmen werden. Das bedeutet, dass wir auch hier aktiv sein müssen, die katastrophalen Ereignisse der letzten Monate haben zu einem Umdenken bei uns geführt. Der Kampf für Klimagerechtigkeit im großen Stil steht im Mittelpunkt – mit allen Medien, die uns zu Verfügung stehen, von unserem Blog bis zum Podcast, Büchern, Interviews, Zeitungen, Radio, TV und den sozialen Medien.

Alles in einem denke ich, dass wir ohne Familienregeln gar keine Chance hätten, die Welt zu einem besseren Ort zu machen und mit Familienregeln vielleicht eine winzig kleine. Ob die Familienregeln die Zukunft besser machen, das weiß ich nicht, ich werde alles dafür geben und klar ist, dass wir der ganzen Scheiße so zumindest irgendwas entgegenzusetzen haben. Klar ist aber für mich jetzt schon, dass sie die Gegenwart angenehmer machen.

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3 Comments

  • Mirco von Juterczenka

    Hallo Christian, vielen Dank für deinen Kommentar. Wir sind sicherlich nicht fehlerfrei, denken jedoch, dass wir unsere Kids zu rücksichtsvollen und höflichen Menschen erzogen haben. Über den Weg dahin lässt sich sicherlich streiten. Den Weg zur Mündigkeit sehen wir als Prozess, der nicht mit Ablauf eines Datums abgeschlossen ist. Es gibt rückblickend sicherlich Bereiche, wo ich mich selbst mit 18 nicht als ausreichend mündig betrachtet habe und das sich in einer kontinuierlich schneller werdenden Gesellschaft auch die Entwicklungsschritte unserer Kinder nicht mehr zwingend mit dem Status 1950 vergleichen lassen ist ebenfalls klar. Die schulischen Leistungen sprechen ebenfalls für sich, man kann also durchaus den Weg dahin kritisieren, muss vielleicht aber auch akzeptieren, dass es nicht einen allgemeingültigen unumstösslichen Weg zu einem definierten Ziel gibt. Beste Grüße Mirco

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    • Christian
      Christian

      Mein Kommentar zielte auf Jasons Meinung, Eltern und Kinder wären gleichberechtigt und Familie müsse eine Demokratie sein. Dem ist nunmal nicht so. Und ich wollte zeigen, dass eine Familie von außen gewissen Zwängen unterworfen ist. Natürlich hat Jason recht, wenn er meint er dürfe euch nicht auf’s Zimmer schicken. Das ist doof aus seiner Sicht. Aber er muss euch auch nicht erziehen. Ihr ihn schon. Und Erziehung ist ja in letzter Konsequenz nichts anderes als Erpressung. Blöd, aber so isses.
      Eure Meinung zum Erfolg eurer Erziehung mag den Tatsachen entsprechen, jedoch kann man aus euren Berichten auch einen anderen Eindruck gewinnen. Letztlich habt ihr ein sicher liebenswertes aber schwer erziehbares Kind, welches euch, von außen betrachtet, auf dem Kopf rumtanzt.
      Grüße Christian

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  • Christian
    Christian

    Hallo liebe Familie J,
    vielen Dank für euren Podcast.

    Zur Familienvereinbarung:
    Europarecht bricht Bundesrecht bricht Landesrecht bricht Familienvereinbarungen. Eltern sind an diese Gesetze gebunden.
    In § 1626 BGB ist die Elterliche Sorge geregelt. Die Eltern haben die Pflicht ihre Kinder zu erziehen. Und das ist keine Demokratie. Muss auch nicht. Weil Kinder unmündig sind (das hat man aus gutem Grund auf das 18. Lebensjahr gelegt). Lies mal eure Schulverfassung. Steht die über der Familienvereinbarung? Ich habe mal ein Beispiel herausgesucht. Das wird so oder ähnlich sicher überall angewandt:
    „Die Eltern tragen große Verantwortung für die Bildung und Erziehung ihrer Kinder. Gemeinsam mit der Schule sorgen sie dafür, dass die Schüler zu höflichen und rücksichtsvollen jungen Menschen heranwachsen. Sie fördern Eigenverantwortung und Wertbewusstsein. Auch der schulische Erfolg wird maßgeblich durch die Eltern beeinflusst. So leisten sie ihren Beitrag unter anderem durch die Bereitstellung eines konzentrierten Arbeitsumfelds für die Erstellung der Hausaufgaben am Nachmittag. Sie sorgen auch dafür, dass ihr Kind ausgeschlafen in die Schule geht.“
    Also von wegen das Kind könne selbst bestimmen, wann es ins Bett geht.

    Grüße

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