Der G20-Gipfel steht derzeit im Zentrum der Berichterstattung, sowohl die Proteste gegen den Gipfel, als auch die politischen Debatten selbst. Vor allem aber werden die Ereignisse am Rande des Gipfels von Rechten genutzt, um Stimmung gegen Organisationen zu machen, die sich für Solidarität, Gerechtigkeit und Freiheit und gegen Geschäfte mit Diktatoren und auch den Kapitalismus einsetzen. Doch was ist der G20-Gipfel eigentlich, was ist dran an der Kritik an ihm und an der Berichterstattung zu den Protesten?
G20 steht für Gruppe der Zwanzig, sie besteht aus 19 Staaten und einer Vertretung der Europäischen Union – gleichzeitig sind auch drei Länder der Europäischen Union direkt vertreten. Die beteiligten Staaten lauten: Argentinien, Australien, Brasilien, Deutschland, Frankreich, Indien, Indonesien, Italien, Japan, Kanada, Mexiko, Russland, Saudi-Arabien, Südafrika, Südkorea, Türkei, Vereinigtes Königreich, Vereinigte Staaten und Volksrepublik China.
Insgesamt haben diese vertretenen Staaten weltweit große Dominanz, zwei Drittel der Weltbevölkerung leben dort und drei Viertel des Welthandels werden durch sie bestritten. Es handelt sich also um die 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer, lediglich die Schweiz ist unter diesen nicht in der G20 vertreten.
Zudem entfallen ganze 85% des weltweiten Bruttoinlandsprodukts auf die in der G20 vertretenen Staaten. Ursprünglich wurde die G20 vor allem für wirtschafts- und finanzpolitische Themen gegründet. Ins Leben gerufen wurde sie auf einem G7-Gipfel, das ist ein Zusammenschluss der USA, Deutschlands, Frankreichs, Italiens, Japans, Kanadas und Großbritanniens.
Der Gründung gingen jedoch einige andere Zusammenschlüsse hervor, diese gehen wiederum zum Teil schon auf die Zeit kurz nach der großen Wirtschaftskrise in Ostasien 1997 zurück und wurden auf Initiative des ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton ins Leben gerufen.
Der erste richtige G20-Gipfel im heutigen Sinne fand jedoch 1999 in Berlin statt, bis 2008 war es wie bereits erwähnt lediglich ein Finanzminister*innen-Treffen. Inzwischen stehen jedoch alle möglichen politischen Themen auf der Agenda: Klimapolitik, Frauenrechte, Terrorismus, Migration, Bildung aber natürlich auch weiterhin Finanzen und wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Zusätzlich zu den festen Teilnehmer*innen und natürlich der Europäischen Union sind hin und wieder auch Gaststaaten und Gastorganisationen eingeladen, etwa die UNO, die Weltbank, die WTO und die WHO.
Ergebnisse des G20-Gipfels
Im Fokus des diesjährigen G20-Gipfels stand Afrika und die dortige Hungersnot – grundsätzlich löblich, das Thema ist ansonsten im politischen Diskurs deutlich unterrepräsentiert. Problematisch ist jedoch, dass unter den 20 Staaten lediglich ein afrikanisches Land dabei ist – das von der Hungersnot selbst kaum betroffene Südafrika.
Inzwischen betrifft die Hungersnot in Afrika 232,5 Millionen Menschen, doch das Problem ist, dass sie nicht an ihren Wurzeln gepackt wurde, sondern lediglich über die Bekämpfung ihrer Folgen gesprochen wurde. Dabei ist jeder Euro zur Vermeidung einer Hungersnot bis zu fünf Mal wirkungsvoller als ein Euro zur Bekämpfung ihrer Folgen.
Eine der wirksamsten Maßnahmen zur langfristigen Verhinderung von Hungersnöten wäre zum Beispiel ernsthafter Klimaschutz. Stattdessen akzeptierten die übrigen Staaten des G20-Gipfels, dass die USA den Klimaschutz als nicht notwendig empfinden und sich nicht an die Pariser Klimaziele binden – sie degradierten die Klimakrise zur Meinungssache.
Zwar beteuerten die anderen 19 Staaten, dass Pariser Klimaabkommen als „unumkehrbar“, jedoch sagte beispielsweise der türkische Präsident Erdoğan nach den Gesprächen, er werde es ohne weitere Fördergelder nicht ratifizieren, also national umsetzen. Auch bezüglich unfairer Handelspraktiken der USA gab es keine echte Aussprache oder gar eine Lösung.
Stattdessen wurde der sogenannte Marshallplan mit Afrika, besser bekannt als G20 Compact with Africa vereinbart, eine Initiative des deutschen Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Dabei sollen vor allem privatwirtschaftliche Unternehmen gefördert werden, sowohl in Afrika, als auch deutsche Unternehmen bei Investitionen in Afrika.
Die grundsätzlichen Säulen des Marshallplans mit Afrika, der auf dem G20-Gipfel vereinbart wurde, lauten:
1.Wirtschaft, Handel und Beschäftigung
2.Frieden, Sicherheit und Stabilität
3.Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte
Trotz aller berechtigter Kritik an ihm ist der Marshallplan mit Afrika bereits schon ein Fortschritt, vor allem weil es sich um eine gleichberechtigte Partnerschaft handelt oder zumindest offiziell handeln soll. Doch letztlich ist die Abschlusserklärung nicht nur vage und nicht besonders ambitioniert, sondern auch rechtlich nicht bindend.
Gleichzeitig haben die Staaten des G20-Gipfels in den letzten Jahren bei beinahe jeder Aufgabe gründlich versagt, sie haben es nicht geschafft, eine vernünftige Klimapolitik umzusetzen oder langfristig und nachhaltig militärische Konflikte und Kriege zu verhindern.
Außerdem stehen diese Staaten beinahe symbolisch für den Kapitalismus und die Marktwirtschaft, jenes System, welches viele der Probleme, deren Lösung sich die G20-Staaten verschrieben haben, überhaupt erst verursacht. Mit Saudi-Arabien der Volksrepublik China und der Türkei sind auch brutale Diktaturen dabei, die Menschen teils ohne Prozess foltern und hinrichten.
Ebenfalls vertreten sind Brasilien, Australien und Russland. Brasilien wird von einem faschistischen Präsidenten regiert, der den Amazonas in Brand steckt, um Ureinwohner*innen einzuschüchtern. Russland hingegen annektiert völkerrechtswidrig die Krim und diskriminiert Journalist*innen und Homosexuelle, während Australiens Regierung seit langem vor der Kohleindustie kuscht und die Klimakrise leugnet. Mit solchen Menschen spricht man nicht.
Proteste gegen den G20-Gipfel
Gründe, um gegen die G20 zu demonstrieren gibt es also genug und folglich taten es auch viele, in etwa 100.000 Menschen. In irgendeiner Form aufgefallen sind aber nur etwa 8.000, das sind ungefähr acht Prozent. 92% der Demonstrant*innen waren also komplett unauffällig und haben lediglich politisch engagiert ihr Demonstrationsrecht wahrgenommen.
Die BILD hingegen skandierte:
„Keiner stoppt den linken Mob“
Anschließend veröffentlichte sie unverpixelte und somit nicht anonyme Bilder von mutmaßlichen, also zu diesem Zeitpunkt noch nicht bestätigten, Gewalttäter*innen und schrieb dazu zudem:
„Gesucht! Wer kennt diese G20-Verbrecher?“
Die Unschuldsvermutung wird hier also absolut mit Füßen getreten, die Aktion war darüber hinaus auch keineswegs mit der Polizei abgesprochen.
Worüber in vielen Medien gar nicht oder zumindest kaum berichtet wurde, ist das Ausmaß der Polizeigewalt am Rande des G20-Gipfels. Überhaupt war die Polizei überproportional präsent, geradezu provokant. Gleichzeitig wurde der sogenannte Schwarze Block, eine vermummte und einheitlich formierte Demonstrationsgruppe, deutlich überschätzt, man rechnete offiziell mit 10.000 gewalttätigen Demonstrant*innen.
Hinzu kamen vielmals als unverhältnismäßig kritisierte Versammlungsverbote. An sehr vielen Orten waren Versammlungen über zwei Tage verboten, eine großflächige Verletzung und Aufhebung von Grundrechten ohne einen Anlass, der das rechtfertigen würde.
Mindestens genauso umstritten war ein wohl rechtswidriger Ausschluss von Journalist*innen. Von den 5.105 zum G20-Gipfel zugelassenen Journalist*innen entzog die Bundesregierung 32 die Presseakkreditierung. Gegen nur vier von ihnen soll es belastende Hinweise gegeben haben, einer davon stellte sich jedoch als Verwechslung heraus.
Mehrere Verbände beklagten daraufhin eine Einschränkung der Pressefreiheit und kündigten rechtliche Schritte an, das ging so weit, dass selbst Justizminister Heiko Maas Stellung zu dem Thema bezog und Aufklärung forderte. Lange erhielten die Journalisten keine Begründung für diesen Schritt. Des weiteren wurden teils Einträge von Journalist*innen ohne Vorbestrafung gespeichert.
Noch heute ist die Debatte über das Informationssystem bei Behörden, etwa der Polizei, nicht abgeschlossen, die Bundesbeauftragte für Datenschutz forderte etwa eine gründliche Überprüfung dessen. Neben diesen äußerst fragwürdigen und teils auch rechtswidrigen Maßnahmen fand aber auch kaum eine richtige öffentliche Debatte oder eine Auseinandersetzung mit dem Vorgehen der Polizei auf dem G20-Gipfel statt.
Es gab über 900 Ermittlungsverfahren gegen Demonstrant*innen und etwa 180 Verurteilungen gegen solche. Gegen Polizist*innen gab es jedoch nur 165 Verfahren, 103 davon wurden sogar sofort wieder eingestellt und nur ein einziger Polizist wurde verurteilt – für ein Verbrechen, welches sich gegen einen anderen Polizisten richtet.
Das Schlimmste daran: Rechtlich ist daran oft nicht einmal viel auszusetzen, da die Handlungen der Polizei nicht selten völlig legal sind, nämlich aufgrund des Gewaltmonopols des Staates, das viele Demonstrant*innen zurecht in Frage stellen – grundsätzlich, aber auch in Zusammenhang mit rechtsextremen Tendenzen innerhalb der Polizei.
Hinzu kommt, dass es zu wenige Kontrollmechanismen gibt, denn zunächst werden natürlich andere Polizist*innen mit Fällen von Polizeigewalt beauftragt. Man kann wohl kaum jemandem vorwerfen, dass eine neutrale Ermittlung nicht möglich ist, wenn man die eigenen Kollegen während der Vernehmung geduzt werden. Das Problem ist strukturell: Das Gewaltmonopol selbst ist in seiner aktuellen Form das Problem.
„Linker Terror?“
Was ist nun mit den zweifelsohne gewaltsamen Protesten? Gutzuheißen sind die sicherlich nicht, sie richten sich gegen die falschen und ziehen unverhältnismäßig hohe Kollateralschäden nach sich, doch ich bin mir recht sicher, dass hinter zerschlagenen Schaufenstern keine tiefe politische Botschaft steckt – und erst recht keine linke.
Solche Verbrechen können per Definition nicht links sein, denn jede politisch linke Ideologie basiert auf Gleichheit, dadurch ist das Wort „links“ erst definiert. Bei einem Verbrechen erhebt man sich über jemand anderen, man erzeugt Ungleichheit und fügt Menschen Schaden zu. Es gibt nur eine Möglichkeit, auf die Gewalt links sein kann: Wenn sie das Ziel der Herstellung von mehr Gleichheit verfolgt.
Gewaltsamer Widerstand gegen Faschismus kann folglich links sein, denn dadurch erhöht man insgesamt die Gleichheit, doch das ziellose Werfen von Steinen oder das Zerstören von Fensterscheiben erhöhen sicherlich nicht die Gleichheit und es besteht auch keine Aussicht darauf, dass dies sich in irgendeiner Form auf die politischen Ergebnisse auswirkt.
Johanna Wüst
Hallo lieber Jay-Jay,
dein G20Artikel hat auch mir gut gefallen. Ohne störende Untertöne, die inzwischen üblich geworden sind. Deine nüchterne Betrachtung auf den G20 hat mir nochmal deutlich gemacht, wie sehr mich die tendenziöse Bericht stören. Grüße aus Berlin und Danke für die Arbeit, die du dir machst.
Felix
Hallo Jay-Jay,
ich fand deinen Artikel sehr interessant und bin vorallem wegen deiner neutralen Berichterstattung erstaunt. Du hast nicht deine Meinung als Anhaltspunkt für die Recherche genommen, sondern Fakten genannt. Das merkt man beispielsweise daran, dass du betonst, dass auf der Demonstration auch viele „friedliche“ Demonstranten waren. Tolle Leistung! Ich wünsche mir mehr Artikel von dir, in denen es um Politik geht.
LG, Felix