RNK Split-Hajduk Split, 31.07.2016
Noch bis zur siebzigsten Minute konnten wir reges Treiben am Kassenhäuschen provisorischen Loch in der Wand beobachten, aus dem heraus Tickets verkauft werden sollten. Die Idee, die Urlaubszeit für Groundhopping in Kroatien zu nutzen und sich das kroatische Derby zwischen RNK Split und Hajduk Split anzuschauen, hatten einige weitere Kroatien-Urlauber. Die Kassenschlange bestand in den neunzig Minuten, in denen wir uns in ihr befanden, aus einem bunten Mix aus Österreichern, Deutschen, Franzosen, Russen und Bayern.
Der Anpfiff war für 21:00 Uhr terminiert, was bei Tagestemperaturen von vierzig Grad, dann nach Sonnenuntergang und unter Flutlicht, ein herrlichen Rahmen schaffte, um Fußball zu schauen. Das Spiel hat für die Kroaten keine besonders große Bedeutung, was man u.a. auch durch die relativ schwache Stimmung zu spüren bekam, und es war nicht einmal ausverkauft. Jeder Besuch eines Drittliga-Spiels in Deutschland hinterließ bezüglich der Stimmung einen besseren Eindruck als das zwanghaft pyromantisierte Geschweige zweier Fangruppierungen. Und auch das Gekicke zweier Mannschaften, die in den letzten zehn Jahren nicht viel mit dem Titel zu tun hatten, war alles andere als sehenswert.
Wir hatten am Nachmittag vor dem Spiel die Gelegenheit, im direkt benachbarten Poljud-Stadion, der Heimspielstätte des abendlichen Auswärtsvereins Hajduk Split, eine Stadionführung zu bekommen. Die Angestellten auf der Geschäftsstelle mussten sehr lachen, als wir um eine Führung baten, die üblicherweise käuflich zu festen Terminen mehrmals täglich buchbar ist. „Bei den aktuellen Witterungsgegebenheiten kommt kein Idiot auf die Idee, sich das Stadion anzuschauen.“ Zvonimir, wie sich unser Stadionführer später vorstellte, der noch sein intensives Gespräch mit einem Mann beendete, den wir zunächst nicht erkannten, der sich aber im Laufe des Abends noch als der Trainer von Hajduk Split zu erkennen gab, nahm sich ausgiebig Zeit und führte uns stolz durch die Trophäenräume.
Er schmückte auch Geschichten rund um den Sieg eines Essener Hallencups in den Sechziger Jahren mit wunderbaren Anekdoten. Er plauderte über gebrochene Beine, die auf Mannschaftsfotos hinter großen Pokalen versteckt werden mussten und all diese barfuß gegen Eisenkugel Tret-Geschichten, die ich bei meinem Dad gehasst habe und doch heute gerne traditionell an meinen Sohn weitergebe. Damals. Er erzählte die Geschichte der Prager Studenten, die den Verein damals gegründet haben, und dass sie den Namen „Hajduk“ erhielten, weil der Professor, dessen Büro sie stürmten, um ihn um Rat bei der Namenswahl des Vereins zu bitten, dies so festlegte. Professor Barac wählte den Namen in Anbetracht des stürmischen Hereinplatzens in sein Büro, denn „Hajduk“ heißt übersetzt „Räuber“ oder „Gesetzloser“.
Zvonimir schilderte detailliert, wie die ganze Stadt noch heute der tragischsten Niederlage der Vereinsgeschichte nachtrauert. Das war sehr ulkig und der Herr Uebersteiger, dessen grandiose jährlich erscheinende Dauerkartenübersicht zwar leider das einzig Lesenwerte in diesem norddeutschen Zeckenblatt ist, würde in Anbetracht von Zvonomirs Schilderungen vermutlich fragen: „Wie im Arsch muss ein Verein eigentlich sein, wenn deine historisch dramatischste Niederlage vom Hamburger SV verursacht wurde?“ Das 3-2 hängt den Anhängern noch heute nach. Der angeblich erste von Bodo Primorac verschossene Elfmeter und das frühe Tor von Hrubesch sind bis heute verankert als Gründe für das Ausscheiden im Viertelfinale des Landesmeisterpokals 1979/1980. Denn dann wäre alles möglich gewesen, so glaubte auch Zvonomir zu wissen.
So amüsant wie es jetzt klingt war es das dann aber in seinen Erzählungen alles gar nicht, weil mit dem Verein international nach der Niederlage nichts wirklich eindrucksvolles mehr passierte. Im vor sich hinsiechenden kroatischen Fußball müssen Menschen wie Zvonomir sich an diesen sehr lange zurück liegenden Momenten festhalten, denn so einen großen Erfolg, da ist sich Zvonomir sicher, wird Hajduk Split im internationalen Fußball nie wieder erreichen können. Hajduk war wirklich ein großartig geführter Verein mit einer sehr erfolgreichen Nachwuchsarbeit. Darijo Srna, Igor Tudor, Niko Kranjčar, Alen Bokšić und Dado Pršo sind zum Beispiel aus ihrer Jugend hervorgegangen, aber der Verein wirkt wie tot und diesen Eindruck vermittelte uns zuallererst Zvonomir. Die nationale Meisterschaft ist von parteipolitischer Seite vom Erzrivalen GNK Dinamo Zagreb im Abo gebucht und es gibt quasi keinen nationalen Wettbewerb. Die aktuelle UEFA-Ranglisten-Situation verspricht zunächst einmal nur einen Startplatz für die Qualifikation zur Champions League, und wie diese funktioniert und arbeitet, das ist ja nun mittlerweile auch dem Fußballlaien bekannt. Wo auch immer das den Fußball hinführen mag – wohl dem, der einen Verein hat, der wenigstens mal absteigt, damit man mit einem Wiederaufstieg dann mal was zu feiern hat.
Der Erfolg vom Dauermeister Dinamo Zagreb wird in vielen Gegenden fälschlicherweise auch der positiven Jugendarbeit und der daraus resultierenden Vielzahl an kroatischen Talenten, die in Zagreb das Kicken erlernt haben, verklärend zugerechnet. Tatsächlich entsprangen erstaunlich wenige Talente der Dinamo Jugendarbeit. Es gilt wohl als kein großes Geheimnis, dass Franjo Tudjman und natürlich bis heute Zdravko Mamic, Herrscher über quasi alles, was unter kroatischer Flagge Fußball spielen möchte, über viele Jahre hinweg intensiven Einfluss auf die Inlands- und Auslandstransfers kroatischer Fußballer hatten. Das gereichte sicherlich auch einmal zu Dynamos Nachteil, wenn es Mamics Taschen füllte, trotzdem aber noch reichten die restlichen geschobenen Millionen aber, um einen Mannschaftswert aufbieten zu können, der doppelt so hoch ist wie der von Hajduk Split und ein Team zu formen, welches die kroatische Liga nun im elften Jahr nach Belieben dominiert.
Mit Lokomotive Zagreb, einem Verein, der vollständig durch Dinamo Zagreb geführt wird, kann man sich sogar ein eigenes Farmteam in der gleichen Liga leisten, welchem es in in den bisherigen Aufeinandertreffen bisher noch nie gelang, auch nur einen einzigen Punkt zu gewinnen. Im Café King bekommt man feuchte Augen bei den Wettmöglichkeiten in der kroatischen Liga. Und so ein separater Ausbildungsverein ist enorm praktisch. Übertragen auf den deutschen Fußball ließe sich ja vielleicht so sogar das Kriegsbeil zwischen den Fans von Borussia Dortmund und Bayern München begraben. Wie dufte, schnieke, töfte das für Fans als konkurrenzloser Dauermeister sein kann, beschreibt dieser Artikel aus Vice Sports aus dem September 2015 sehr eindrucksvoll.
Zvonimir war großartig und ließ sich auch nicht von der Horde an Menschen aus der Ruhe bringen, die unvermittelt aus einem Raum geschossen kamen. Während ich mich noch wunderte, dass der Verein dann doch über so viele Mitarbeiter verfügte, klärte uns Zvonimir auf, dass wir uns jetzt dann auch den letzten Raum anschauen können. Eine Art Versammlungsraum hinter der Mannschaftskabine, aus dem gerade die Mannschaft kam, die hatten nämlich ihre erste Spieltagsbesprechung im Rahmen des abends anstehenden Spiels. „Aber DAS Spiel, wenn es noch ein wichtiges gibt, ist eigentlich in der kommenden Woche dahein gegen Dynamo Zagreb. Wir werden wohl verlieren. Und wenn nicht? Dann ändert das nichts“, verabschiedete uns Zvonomir. Optimismus hört sich anders an. (Es endete 0-4).
Die Schlange am Loch wurde nicht kleiner. Da unmittelbar nach Anpfiff noch immer ca. 75 Leute vor uns um Tickets anstanden, versuchte ich den Sohn darauf vorzubereiten, dass wieder einmal eine Auslandstour nicht ganz hundertprozentig funktioniert. In Lyon klappte es erst durch Glück im letzten Moment mit Tickets, in der dominikanischen Republik verwechselten wir durch die Zeitverschiebung die Anstoßzeit, und in Prag kamen wir fast zu spät wegen einer Geldwechselpanne. Nun sollten wir wieder einmal ohne Ticket vor einem Stadion stehen? „Wir gucken dieses Spiel.“ Der Sohn legte die Messlatte für die Verhandlungsbasis fest, und so umrundeten wir das sehr alte Stadion, um nach alternativen „Eingängen“ zu suchen und in der Hoffnung, vielleicht doch an einem anderem Ticketschalter noch Tickets zu erhalten. An den anderen Ticketschaltern sah es aber nicht besser aus, und bis auf ein ca. drei Meter hohes Holztor, von dem man, würde man es besteigen, wohl einen relativ guten Blick ins Stadion erhaschen könnte, boten sich keine Alternativen.
„Da! Da schauen wir.“
Der Sohn zeigte auf ein altes Hochhaus direkt gegenüber der Geraden, wo die RNK-Fans ihre Banner aufgehängt hatten. Tatsächlich. Seitlich auf ca. dreißig Meter Höhe saßen zwei Gestalten auf einer Art Nottreppe oder Feuerleiter. Dort verfolgten wir dann das Spiel mit zwei süßlichen Rauch verströmenden Mittzwanzigern. Es gibt sicherlich bessere
Orte, um seinem Sohn Live-Fußball bieten zu können, aber Jay-Jay war sichtlich stolz. Er hatte das Problem gelöst. Es war nicht Papsi, der sich Tickets erbettelte oder ein Problem rund um einen Stadionbesuch löste. Er hatte es gelöst. Er genoss das Spiel, den neuen Blickwinkel, die kleine Pyro-Show der beiden Fangruppierungen und ließ sich erst ca. zehn Minuten vor dem Ende überzeugen, die Feuerleiter zu verlassen, da mir meine Höhenangst zu schaffen machte und unsere zugedröhnten Mitgucker mir jetzt auch nicht als beste Wahl erschienen, sich um den Sohn zu kümmern, wenn ich hier in Ohnmacht falle. Mir war unwohl bei dem ständigen Blick durch die Metallraster der Feuerleiter und wir mussten ausserdem noch heil unten ankommen und dann ja noch über die abgeschlossene Gittertür an dem Wohnzimmerfenster vorbei, wo das Spiel im TV lief. Ich vermochte nicht einzuschätzen, wie die Bewohner so zu Hausfriedensbruch durch Kiffer stehen, und wie schnell wir da in eine unglückliche Situation geraten könnten.
Der Sohn war ein wenig sauer und bestand darauf, vielleicht den Schluss des Spiels in dieser einen kleinen Gasse zu hören und vielleicht einen Blick durch den kleinen Spalt an den Scharnieren des Holztores zu ergattern, die sich am Ende der Gasse hervorhoben. Das Spiel schien in der Schlussphase noch einmal an Fahrt aufzunehmen, denn beide Fangruppierungen wurden merklich lauter. „Ich muss das jetzt sehen, heb mich da hoch.“ Ich hatte keine Angst, er würde dort nicht hochkommen, ich war mir nur nicht im Klaren darüber, wie ich ihn da dann wieder runter bekomme, aber der Sohnemann war unerbittlich und hatte so dann tatsächlich noch den besten Blick auf das 1-0 für Hajduk im Rücken des Kurvenrandes der Torcida. Als das Tor fiel, versteifte der Sohn sich ein wenig vor positiver Anspannung dort oben auf dem Tor. Das
sah amüsant aus, aber ich wusste, ich dürfte ihm das nicht sagen, denn er interpretiert das immer so als würde ich ihn dann auslachen. Und das, was ich in jedem Fall verhindern wollte, war, dass er sich nachts in der kroatischen Pampa noch was bricht, weil Papsi ein blödes Witzchen machen musste und er vor Wut vom Zaun stürzt. Ich erzählte es ihm daher erst später, als ich ihn mit Unterstützung von zwei Jugendlichen, die ihn abseilten wie einen Sack Mehl, von diesem Zaun gewuchtet hatte. Nun konnte er auch herzlich darüber lachen, dass er da oben aussah, als würde er dringend die Toilette besuchen müssen. Er war halt sehr aufgeregt.
Nach Spielende hatten wir dank meiner mangelnden Auffassungsgabe (kroatische Busfahrpläne sind für mich wie Snapchat) und einem nicht vorhandenem Nahverkehr sowie Taxiwartezeiten von mehr als einer Stunde noch das Vergnügen, den Weg über den Stadtteil in die Altstadt und bis zum Hafen zu laufen. Eine Kugel Wassermelone, eine Kugel Limone und eine Kugel Mangoeis gegen 23:55 Uhr rettete die „Nur ein Eis pro Tag-Regel“. Es gelte der Zeitpunkt der Eisaushändigung, nicht der Endzeitpunkt des Verzehrs, und Jason hatte am Spieltag selbst ja noch kein Eis. Ein weiteres großes, in der Zukunft vielleicht entstehendes Problem wurde also proaktiv gelöst. Ich erklärte dem Sohn, warum die Damen in der Hafengegend in der Nähe unseres Hotels vermutlich so nett zu Papsi waren und müde, glücklich und kaputt fielen wir gegen halb eins ins Bett. Ohne eine Diskussion aufkeimen zu lassen, ob der zweite Teil unseres Ausflugs wirklich sinnvoll sei, stellte uns Jay-Jay seinen Wecker auf 4:30 Uhr. Das schönste Stadion der Welt wollte besucht werden.
Links zum kroatischen Fußball und Groundhopping in Kroatien
Die Situation im kroatischen Fußball: Sehr guter Einblick zur Positionierung ehemaliger Fußball-Profis wie Davor Šuker und Josip Šimunić. http://www.zeit.de/sport/2016-06/fussball-em-kroatien-ausschreitungen-verband/seite-2
Nadine Freiermuth, damals 43, studierte Geschichte und Germanistik an der Universität Basel. Ihre Lizenziatsarbeit verfasste sie zum Thema «Geschichte im Fussballstadion. Die Bad Blue Boys von Dinamo Zagreb. Symbolik, Erinnerung und Nationalismus von den achtziger Jahren bis in die heutige Zeit». https://www.woz.ch/-2059
Persönlich halte ich es für mutig, Hakenkreuzen die Symbolik, selbst wenn es nur teilweise geschieht, absprechen zu wollen, aber der kürzlich erschienene 11-Freunde-Artikel im Kontext der Ausschreitungen kroatischer Fans bei der EM 2016 ist wirklich ein Lichtblick im Rahmen der Berichterstattung über die Geschehnisse und bietet ein sehr gutes Maß an Hintergrundinformationen. http://www.11freunde.de/artikel/warum-die-kroatischen-fans-randalieren/page/1