fbpx

Wochenendrebellen

Groundhopping | Autismus | Wissenschaft | Podcast | Weltverbesserung

Der IPCC schreibt das 1,5°C-Ziel nicht ab!

Oekologie | Der IPCC schreibt das 1,5°C-Ziel nicht ab! | 15°C e1628603641970

Die 1,5°C-Grenze ist unsere Überlebensgarantie: Sie begrenzt den Meeresspiegelanstieg, dämmt das Artensterben ein, mindert die wirtschaftlichen Schäden und dämpft den Anstieg von Wetterextremen. Im sechsten Sachstandsbericht des IPCC spielt die Erreichbarkeit des Ziels daher eine Hauptrolle. Allerdings gab es eine Reihe von Missverständnissen und Falschdarstellungen. In diesem kurzen Artikel möchte ich einmal damit aufräumen…

Erst einmal müssen wir bei allen Aussagen berücksichtigen, dass der Bericht bei in die Zukunft gerichteten Prognosen nur selten ausschließt oder etwas definitiv festlegt, sondern Wahrscheinlichkeiten angibt – schließlich ist nie ganz sicher wie das Klima auf unsere Emissionen reagiert (was die Wahrscheinlichkeitsangaben bedeuten, habe ich bereits in meiner gestrigen Analyse erklärt). Die viel größere Unbekannte sind aber unsere Emissionen selbst, denn die könnten sich in den kommenden zehn Jahren völlig verschieden entwickeln. Der Weltklimarat sieht dafür im Wesentlichen fünf Szenarien:

  • sehr hohe Emissionen (SSP5-8.5)
  • hohe Emissionen (SSP3-7.0)
  • mittlere Emissionen (SSP2-4.5)
  • niedrige Emissionen (SSP1-2.6)
  • sehr niedrige Emissionen (SSP1-1.9)

Und jetzt die schlechte Nachricht: In allen fünf Szenarien liegt die Wahrscheinlichkeit für ein Überschreiten der 1,5°C-Marke im Zeitraum 2021-2040 bei über 50%, ein Überschreiten ist also wahrscheinlicher als ein nicht-Überschreiten. Im Szenario mit sehr hohen Emissionen (SSP5-8.5) liegt die Wahrscheinlichkeit sogar bei über 90%, mit hohen und mittleren Emissionen (SSP3-7.0 und SSP2-4.5) bei über 66%

Zitat aus dem AR6: B.1.3     Global warming of 1.5°C relative to 1850-1900 would be exceeded during the 21st century under the intermediate, high and very high scenarios considered in this report (SSP2-4.5, SSP3-7.0 and SSP5-8.5, respectively). Under the five illustrative scenarios, in the near term (2021-2040), the 1.5°C global warming level is very likely to be exceeded under the very high GHG emissions scenario (SSP5-8.5), likely to be exceeded under the intermediate and high GHG emissions scenarios (SSP2-4.5 and SSP3-7.0), more likely than not to be exceeded under the low GHG emissions scenario (SSP1-2.6) and more likely than not to be reached under the very low GHG emissions scenario (SSP1-1.9)27. Furthermore, for the very low GHG emissions scenario (SSP1-1.9), it is more likely than not that global surface temperature would decline back to below 1.5°C toward the end of the 21st century, with a temporary overshoot of no more than 0.1°C above 1.5°C global warming.  {4.3, Cross-Section Box TS.1} (Table SPM.1, Figure SPM.4)

Wenn aber selbst im besten Szenario mit den geringsten Treibhausgasemissionen die Wahrscheinlichkeit für das Überschreiten der 1,5°C-Marke bei über 50% liegt, ist das Ziel 1,5°C damit nicht vom Tisch?

Nicht ganz.

Wie ihr vielleicht bereits bemerkt habt, schreibt der IPCC für das SSP1-1.9-Szenario nur von „reached“ statt von „exceeded“. Das hat tatsächlich eine Bedeutung, denn in diesem Szenario liegt die Wahrscheinlichkeit bei über 50%, dass die 1,5°C-Marke nur geringfügig und zeitweise überschritten wird. Die Erderhitzung würde demzufolge zwar zwischen 2021 und 2040 die 1,5°C überschreiten und zwischen 2041 und 2060 auf 1,6°C steigen, sich bis 2100 aber wieder umkehren, sodass wir am Ende des Jahrhunderts eine Erwärmung von 1,4°C hätten – mit richtig, richtig viel Glück wären wir dann sogar wieder unter unserem aktuellen Stand, bei 1,0°C. Darüber hinaus blieben wir mit über 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit unterhalb von 2°C. Kein schönes Szenario, aber eines, welches unser Fortbestehen als Zivilisation sichern könnte.

Auch im SSP1-2.6-Szenario mit relativ niedrigen Emissionen besteht noch eine kleine Chance, bis 2100 wieder auf unter 1,5°C zu sinken – die liegt aber bei unter 50% und hier ist die Wahrscheinlichkeit zudem deutlich höher, doch noch über die 2°C zu schießen…

Tabelle der Erderwärmung in naher, mittlerer und fernerer Zukunft unter den fünf SSP-Szenarien
QUELLE: AR6

Dennoch sollten wir uns keine Illusionen machen: Die beiden optimistischsten Szenarien SSP1-1.9 und SSP1-2.6 gehen beide davon aus, dass die Treibhausgasemissionen JETZT schnell sinken, um 2050 global die Null erreichen und danach durch große Mengen negativer Emissionen ausgeglichen werden – mehr als nur ambitioniert. Und selbst dann gibt es in keinem davon eine Garantie dafür, dass die 1,5°C-Marke gehalten wird. Realistisch betrachtet stehen unsere Chancen also außerordentlich schlecht, abgeschrieben ist das Ziel allerdings noch nicht, denn tun wir das, was nötig ist, liegt die Wahrscheinlichkeit immerhin noch bei über 50%, dass wir im Jahr 2100 wieder bei 1,4°C sind…

Nun gut, in allen vier Szenarien werden wir die 1,5°C also vermutlich – zeitweise oder dauerhaft – reißen. Da bleibt dann noch die Frage: Wann ist es denn so weit?

„Weltklimarat: Erde erwärmt sich bis 2030 um 1,5 Grad“

ntv.de

2030, so war es zumindest in vielen Schlagzeilen zu lesen. Und noch schlimmer: Das sei ganze zehn Jahre früher als bisher, nämlich im Jahr 2018, prognostiziert wurde.

„Bereits 2030 droht eine Erderwärmung um 1,5 Grad – zehn Jahre früher als bisher prognostiziert.“

tagesschau.de

Stimmt das? Werfen wir einmal einen Blick in den Bericht. Für jedes Szenario lässt sich eine Zeitspanne angeben, innerhalb derer das Überschreiten mit einer Wahrscheinlichkeit von 95% liegt – die Wahrscheinlichkeit dass es früher oder später passiert, liegt nur bei fünf Prozent.

Mögliche Überschreitungsjahre der 1,5°C-Marke in allen fünf Szenarien
Quelle: Carbon Brief

Wir sehen wir die prognostizierten Überschreitungsjahre sowohl aus dem Bericht als auch die Schätzungen von Carbon Brief. Die Balken stehen für den Bereich, innerhalb dessen der Überschreitungszeitpunkt mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit liegt, die Punkte sind die „besten Schätzungen“, also die wahrscheinlichsten Zeitpunkte. In den Szenarien SSP1-1.9 und SSP1-2.6 reicht der Balken bis zum Ende der Grafik, da hier eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass die 1,5°C-Marke gar nicht gerissen wird.

Wir sehen: In allen Szenarien liegt der wahrscheinlichste Zeitpunkt für ein Überschreiten in den frühen 2030ern: Im besten Fall bei 2035 und in den mittleren Szenarien bei 2030, bzw. 2032. Die Schätzungen von Carbon Brief ergeben Ähnliches. Ausnahme ist nur der Worst Case SSP5-8.5, hier liegt der wahrscheinlichste Zeitpunkt noch in den späten 2020ern, nämlich 2027.

Aber was ist von den Angaben 2020 oder 2021 als frühstmögliche Überschreitungspunkte zu halten (bei SSP2-4.5, bzw. SSP5-8.5)? Das 1,5°C-Ziel gilt nicht als gerissen, wenn ein einzelnes Jahr 1,5°C wärmer ist als die vorindustrielle Zeit, deshalb bedeutet das nichts anderes als dass wir mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit bereits jetzt mitten in einer 20-Jahres-Periode stehen, die am Ende durchschnittlich 1,5°C wärmer gewesen sein wird als die vorindustrielle Zeit, nämlich 2013-2032.

Das gilt auch für alle anderen Angaben: 2035 als wahrscheinlichstes Überschreitungsjahr bedeutet, dass die Periode 2025-2044 wahrscheinlich die erste 20-Jahres-Periode sein wird, die im Durchschnitt 1,5°C wärmer sein wird. Damit es bereits die aktuell laufende Periode 2013-2032 wird, müssten die verbleibenden Jahre aber sehr heftig ausfallen, denn noch war kein einziges Jahr seit 2013 die besagten 1,5°C wärmer. Bereits in sehr naher Zukunft könnten einzelne Jahres es allerdings sein.

Dass eine Erderhitzung von 1,5°C wahrscheinlich in etwa um 2030 erreicht werden wird, stimmt also – in zwei Szenarien etwas später, in einem etwas früher. Aber was hat es mit der Aussage auf sich, das sei zehn Jahre früher als bisher prognostiziert? Wenn wir uns den Sonderbericht aus dem Jahr 2018 anschauen (in der Grafik ganz rechts), mit dem verglichen wird, lässt sich diese Aussage nicht bestätigen. Er gab damals einen wahrscheinlichen Überschreitungszeitraum von 2030 bis 2052 an.

Zitat aus dem SR1.5: Human activities are estimated to have caused approximately 1.0°C of global warming5  above pre-industrial levels, with a likely range of 0.8°C to 1.2°C. Global warming is likely to reach 1.5°C between 2030 and 2052 if it continues to increase at the current rate. (high confidence) (Figure SPM.1) {1.2}

Wenn wir da einfach den Mittelwert von 2041 nehmen, dann würde es ungefähr mit den zehn Jahren früher passen, aber das wäre natürlich Quatsch, denn im Bericht steht direkt dahinter, dass diese Abschätzung darauf basiert, dass die Emissionen mit der aktuellen Geschwindigkeit weiter steigen („increase at the current rate“). Der Sonderbericht 1,5°C verwendet also eine ganz andere Methodik als der aktuelle Bericht, der ja in verschiedenen Szenarien auch die künftige Entwicklung der Treibhausgasemissionen berücksichtigt. Deshalb gibt der Sonderbericht 1,5°C bspw. auch keine „beste Schätzung“, sondern nur einen Wahrscheinlichkeitsbereich an.

Ein Vergleich von linearer Fortsetzung und szenariobasierter Projektion ist wie ein Vergleich von Äpfel mit Birnen. Wendet man das SSP1-1.9-Szenario auf die Daten des Sonderberichts 1,5°C an, dann resultiert als beste Schätzung ziemlich genau der Zeitpunkt, der nun auch im sechsten Sachstandsbericht angegeben wird, nämlich die frühen 2030er. Auch im Sonderbericht selbst wurde im zweiten Teil eine szenariobasierte Schätzung angestellt (in der Grafik die schwarzen Punkte ganz rechts über „SR1.5 Ch2“) und offensichtlich liegen diese etwa auf einer Ebene mit denen des sechsten Berichts und nicht zehn Jahre dahinter.

Eigentlich hätten die Autor*innen zahlreicher Medienberichte nicht einmal die Grafiken interpretieren, sondern einfach den Bericht lesen müssen. Der Weltklimarat schreibt in einer Fußnote nämlich selbst:

“[T]he SR1.5 estimate of when 1.5C global warming is first exceeded is close to the best estimate reported here.”

Fußnote aus dem sechsten Sachstandsbericht des Weltklimarats

Tatsächlich hat auch der Weltklimarat selbst den Vergleich mit dem Sonderbericht 1,5°C in früheren Entwürfen noch angestellt, korrekterweise wurde er allerdings gestrichen und durch einen Hinweis ersetzt, dass die aktuellen Angaben im frühen Bereich der Abschätzungen des Sonderberichts liegen.

Für uns hat aber vor allem eines wichtig zu sein: Während die Klimasensitivität, also die Erwärmung bei Verdopplung des atmosphärischen CO2-Gehalts, im letzten Bericht noch in einem Wahrscheinlichkeitsbereich zwischen 1,5°C und 4,5°C und ohne beste Schätzung angegeben wurde, liegt sie im neuen Bericht zwischen 2°C und 5°C – mit 3°C als bester Schätzung. Damit ist endgültig klar: Ergreifen wir keine radikalen Maßnahmen, werden wir sowohl an 1,5°C als auch an 2°C, das eigentlich mehr ein finsteres Horrorszenario als ein anzustrebendes Ziel ist, scheitern.

Show More

1 Comment

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert