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In diesem Jahr nehme ich wahrscheinlich wieder einmal an einem Wettbewerb für Nachwuchsforscher*innen teil. Dazu gehört natürlich auch immer ein obligatorisches Ethikformular, durch das die Wettbewerbsleitung prüft, ob die Forschung mit ethischen Grundsätzen vereinbar ist. Da ich auf dem Feld der physikalischen Mathematik forsche, ist es für mich lediglich eine Formalie, aber eines ist klar: Das Experiment „Kinderdurchseuchung“, das derzeit mit Zustimmung aller regierenden Parteien an Kindern und Jugendlichen durchgeführt wird, hätte ganz schlechte Karten für eine Genehmigung…
Die süße post-pandemische Versprechung
„Was passiert, wenn eine Personengruppe mit unterdurchschnittlicher Immunität und überdurchschnittlicher Durchmischung im Winter ohne Schutzmaßnahmen einem potentiell tödlichen Virus mit einem R0-Wert von 18 ausgesetzt wird und die Zivilgesellschaft es zulässt, dass der größte Druck von der Straße aus der Richtung antisemitischer Esoteriker*innen kommt?“
In etwa so würde man wohl die Fragestellung formulieren.
Die Experimentator*innen der Kinderdurchseuchung?
Die CDU, die sogar Wahlwerbung damit macht mit coronaleugnenden Nazis offen zu diskutieren und als für lange Zeit größte Regierungspartei die Hauptverantwortung für beinahe 100.000 vermeidbare Todesfälle trägt (Quelle).
Die SPD, die bei den Verhandlungen im April 2021 wohl innerhalb der Koalition dafür kämpfte, Schulen erst ab einem Inzidenzwert von 200 (statt 165) zu schließen (Quelle).
Die Grünen, die es in Baden-Württemberg geschafft haben, mit ihrer wissenschaftsleugnenden Kultusministerin Schopper sogar die Vorgängerin Eisenmann (CDU) zu unterbieten, was ich echt nicht für möglich hielt (Quelle).
Die FDP, die mit dem Vorschlag des „Freedom Days“ maßgeblich dazu beigetragen hat, dass eine sozialdarwinistische, faschistoide Strategie durch Diskurs innerhalb demokratischer Parteien normalisiert wird. Wie man eine Entscheidung gegen das Leben von Kindern auf diese Weise eventisieren kann, widert mich zutiefst an (Quelle).
Die Linkspartei, die (von offen agierenden Coronazis in der Partei abgesehen) an der Spitze der Thüringer Landesregierung die Testpflicht und die Maskenpflicht für Schüler*innen aufgehoben hat, im Sommer 2020 massiv Kontaktbeschränkungen lockerte und am Beginn der zweiten Welle in thüringen härtere Maßnahmen sogar bekämpfte (Quelle).
Vermutungen über den Ausgang des Experiments gab es genug.
Es ist nicht die erste Pandemie, nicht einmal die erste Coronavirus-Pandemie. Schon bei der sogenannten „Russischen Grippe“ von 1892, bei der es sich wie wir heute wissen vermutlich gar nicht um Grippe (Influenza), sondern das Coronavirus CoV-OC43 handelte, grassierte der Mythos, nur ältere Menschen seien betroffen.
Das Bild zeigt trauernde Eltern neben ihrem todkranken Kind – daneben ein kleiner Sarg mit der Aufschrift „Aged one year“. Die Botschaft ist klar: CoV-OC43 kann alle Altersgruppen treffen, Kinder zu durchseuchen, ist keine gute Idee. Der Erreger verbreitete sich über das damals recht neue Eisenbahnnetz und tötete etwa eine Million Menschen. Heute ist CoV-OC43 tatsächlich endemisch geworden, es gehört also zu den dauerhaft zirkulierenden Erkältungsviren, mit denen sich die meisten im Kindesalter infizieren.
Wie Corona zur Kinderkrankheit wird
Die Hoffnung, dies verhalte sich mit SARS-CoV-2 nach der Kinderdurchseuchung ähnlich, ist nachvollziehbar, scheint sich jedoch zumindest in absehbarer Zeit nicht zu erfüllen. Bisher ist das Virus von Variante von Variante lediglich ansteckender geworden und hat Immunitätslücken gefunden, die Schwere der Krankheitsverläufe variiert jedoch nur in geringem Maße und was Long Covid betrifft, konnten gar keine Unterschiede festgestellt werden. Die gesunkene Todesrate liegt weniger an der Omikron-Variante, die an sich immer noch gefährlicher ist als der Wildtyp (Quelle), sondern vor allem an anderen Gründen:
- Hocheffektive Impfstoffe, die den Großteil der tödlichen Verläufe in allen Altersgruppen verhindern, ca. 97.6% bei Erwachsenen und 66,9% bei Kindern (Quelle)
- Die Tatsache, dass Zweit- und Drittinfektionen, auch wenn sie alles andere als harmlos sind, in der akuten Phase seltener tödlich verlaufen
- Die Tatsache, dass wir diesem Virus 170.000 unserer vulnerabelsten Mitmenschen bereits geopfert haben, die natürlich nicht zweimal sterben können
Bevor man so ein Experiment durchführt, fertigt man häufig Simulationen an. Es lässt sich sogar relativ exakt simulieren, wie sich die Risikolast nach der Kinderdurchseuchung in den kommenden Jahren zulasten der jüngeren Generationen verschieben wird – da nach Pandemie-Ende geborene (wann auch immer das sein wird) die einzigen sein werden, die sich noch völlig ohne Schutz infizieren.
Das Bild zur Kinderdurchseuchung. Der schwarze Graph zeigt das Risiko einer Primärinfektion (also einer Infektion ohne Schutz) der verschiedenen Altersgruppen in der aktuellen pandemischen Phase: Hier sind alle Altersgruppen einigermaßen gleichmäßig betroffen, auch die Älteren, auf die ein großer Teil der Todesfälle entfällt.
Die rote Kurve hingegen zeigt die Risikoverteilung in einigen Jahren, sollte das Virus endemisch geworden sein. Wir sehen, dass es praktisch keine Primärinfektionen mehr bei Erwachsenen gibt (wobei auch Reinfektionen und Impfdurchbrüche nicht immer mild verlaufen). Doch für die Kinder bleibt das Risiko dauerhaft auf dem pandemischen Level – der Exit durch eine Endemie ist für sie eine Illusion. Durchseuchung ist bei diesem Virus ohne bleibende Immunität keine Strategie, sondern das, was passiert, wenn man keine Strategie hat. Die Kinderdurchseuchung hat kein Ende.
Vertuschte Todesfälle, Hirnschäden und Euthanasie
Im Klartext: Wir züchten uns mit der Kinderdurchseuchung eine neue Kinderkrankheit. Im 21.Jahrhundert. Das wäre vermeidbar gewesen. Viele Menschen, die künftig noch geboren werden, werden sich als Kinder mit SARS-CoV-2 infizieren. Das ist der schlechteste Weg, auf dem eine Pandemie enden kann. Ja, die Sterblichkeit wird durch diesen Effekt in den kommenden Jahren vermutlich auf natürliche Weise sinken, es wird auch insgesamt weniger schwere Verläufe geben, denn dass diese bei Kindern seltener als bei älteren Menschen sind, ist Fakt. Doch reden wir uns das nicht schön: SARS-CoV-2 ist auch für Kinder kein Erkältungsvirus und die Kinderdurchseuchung erzeugt enormes Leid.
Man kann nämlich nicht sagen, dass das Experiment Kinderdurchseuchung bisher nicht ergiebig war. Die Ergebnisse bisher:
- In England wurden zeitweise 100 Kinder pro Woche wegen Corona-Komplikationen, vor allem PIMS, im Krankenaus behandelt (Quelle).
- In Deutschland sind bisher (Stand: 29.Januar 2022) 57 Menschen zwischen null und 19 Jahren an COVID-19 gestorben – mehr als in Neuseeland insgesamt Menschen an COVID-19 gestorben sind (Quelle).
- In Frankreich wurden Hirnschäden bei Kindern in Folge einer COVID-19-Infektion gefunden (Quelle).
- In Brasilien – einem Land, welches die Kinderdurchseuchung ungebremst wüten lassen hat – sind etwa 1.300 Babys an Corona verstorben (Quelle).
- PIMS tritt auch bei Kindern mit asymptomatischem Verlauf einer Infektion auf (Quelle).
- In den USA haben über 40.000 Kinder und Jugendliche mindestens ein Elternteil durch COVID-19 verloren, manche davon wurden von ihren eigenen Kindern angesteckt (Quelle).
- In Schweden, das weitgehend auf Schulschließungen, Test- und Maskenpflicht verzichtete, gab es in den Frühlingsmonaten 2020 wohl eine Übersterblichkeit bei Kindern im Schulalter von 68%, die offenbar vertuscht werden sollte (Quelle). Kinderdurchseuchung ist kriminell.
- In Kanada wird schwer an Long Covid erkrankten Menschen, die für die Wirtschaft nicht mehr nützlich sind, in der Kampagne „Medical Assistance in Dying“ die Tötung auf Verlangen nahegelegt, auch wenn sie zuvor keine Todeswünsche äußerten. Die Regierung stockt und die Mittel dafür auf.
Liebe Eltern. Wieso brennt dieses Land eigentlich noch nicht lichterloh?
Wenn Politiker*innen sagen, dass wir auf dem Weg von der Pandemie zur Endemie ist, dann ist das für Kinder kein Licht am Ende des Tunnels, sondern eine Drohung. Es steht ja nicht einmal mehr in der Zeitung, wenn Kinder und Jugendliche an COVID-19 sterben. Ja, ein paar dutzend scheinen wenig im Vergleich zu den zehntausenden in anderen Altersgruppen – dennoch ist COVID-19 gemessen an der Zahl der Hospitalisierungen nun die gefährlichste Kinderkrankheit. Eine Folge der Kinderdurchseuchung.
„Keine Kinderkrankheit führe zu so vielen Krankenhaus- und Intensivstationsaufenthalten wie Corona.“
Karl Zwiauer, Mitglied des österreichischen Nationalen Impfgremiums
Nur weil wir das SARS-CoV-2 im Winter 2020 in einem solchen Maße die Altenheime leer räumen lassen haben, dass ein Balken mit 392 Toten im Diagramm nicht mal mehr sichtbar ist, sind 57 tote Kinder und Jugendliche durch die Kinderdurchseuchung nicht nichts.
Mehr Statistiken bei Statista
Nun werden einige kommen, man dürfe nicht nur epidemiologisch denken, sondern müsse auch berücksichtigen, was mit unserer Gesellschaft, unserer Kultur passiere.
Lasst uns das einmal tun. Kommen wir zur Einordnung und Diskussion der Forschungsergebnisse.
Im März 2020 ließ sich der Vizegouverneur von Texas, Dan Patrix, mit folgender charmanter Aussage zitieren.
Niemand hat mich kontaktiert und gefragt: „Sind Sie als Senior bereit, ihr Leben zu riskieren im Austausch dafür, Amerika so zu behalten, wie es alle lieben, für Ihre Kinder und Enkelkinder? Wenn das der Deal ist, dann bin ich auf jeden Fall dabei. Ich denke, es gibt da draußen viele Großeltern wie mich, ich habe sechs Enkel. Ich will nicht, dass das ganze Land geopfert wird.“
Dan Patrix, Vizegouverneur von Texas
Als Enkelkind habe ich mich wirklich dafür geschämt, dass der Eindruck entstehen könnte, diese Barbarei, dieses faschistoide Unrecht, welches älteren Menschen angetan würde, sei auch nur im Entferntesten in unserem Interesse. Ich sah die Diskussionsrunde bei Lanz mit Klaus Stöhr, Dieter Janecek, Kristina Schröder und Wolfgang Kubicki schon vor mir: „Muss Opa für uns sterben?“.
Doch das Ende der Fahnenstange war noch nicht erreicht.
Im Februar 2021 wurde publik, dass in Großbritannien Anweisungen gegeben wurden, Menschen mit Down-Syndrom und anderen Behinderungen im Falle eines schweren COVID-19-Verlaufs nicht wiederzubeleben. Mir stockt noch immer der Atem, wenn ich darüber schreibe, nicht zuletzt, weil auch Autist*innen in England aufgefordert wurden, sich im Falle einer schweren Erkrankung nicht wiederbeleben zu lassen.
Auch nicht im Fall der neuen Triage-Richtlinien der Schweiz, die vorsahen, Menschen mit mittelschwerer Demenz und über 85-jährige im Falle von knappen Intensivbetten generell nicht zu behandeln.
In einer der größten Schweizer Tageszeitungen, las man darüber nicht etwa Empörung, sondern ein Interview, in dem Leben mit verschiedenen Behinderungen und Krankheiten unterschiedliche Werte zugeordnet werden.
„Nein, das Leben eines stark dementen Patienten (…) ist nicht gleich viel wert wie das einer Person, die mental intakt ist.“
Peter Singer im NZZ-Interview
Ich bin nach wie vor der Meinung, dass jedes Menschenleben den gleichen Wert hat, und zwar einen, der sich nicht in Mallorca-Urlauben, Kneipenbesuchen oder Feiern aufwiegen lässt. Voll 2019, ich weiß… In einem Tweet dazu schrieb ich am 15.Februar noch, ich hielte dieses Geschehen auch in Deutschland für nicht undenkbar.
Wenige Monate später wurde publik, dass Obdachlose und Behinderte in Deutschland minderwertige Masken erhielten. Nein, nicht dasselbe wie in Großbritannien – aber die Richtung…
Es ist keineswegs neu, dass Gesellschaften ihre körperlich Schwächsten verraten, wenn es ernst wird: Als sich 1986 die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl ereignete, verteilte Polen über die Schulen an alle Kinder des Landes Iod-Tabletten, die vor Schilddrüsenkrebs infolge der radioaktiven Strahlung schützen. Deutschland schloss Spielplätze und erklärte Kindern über die Schulen, sie sollten keine Steine aufheben.
Das Schlimmste steht uns noch bevor
Ich sehe den rechten Mob auf Twitter schon wieder toben, ich sollte mich in psychologische Behandlung begeben. Vermutlich werde ich das auch einmal, aber definitiv nicht deshalb, weil ich 170.000 Toten nicht mit der Gleichgültigkeit begegnen kann, die von der Gesellschaft dafür gefordert wird. Wenn in Neuseeland die Premierministerin erklärt, der erste Corona-Todesfall im Land seit einem halben Jahr sei „eine zutiefst traurige Erinnerung“ an die Notwendigkeit von Einschränkungen, dann ist das der Stellenwert, den ich einem Menschenleben zugeordnet sehen möchte.
Selbst wenn wir in Deutschland aus verschiedensten Gründen nicht so erfolgreich sind wie Neuseeland oder Taiwan es sind, betrachten wir diese Vorzeigebeispiele mit Respekt statt eurozentrischer Arroganz und lernen wir davon. Machen wir unseren Fehler rückgängig und errichten wieder eine vernünftige Infrastruktur zur Kontakt-Nachverfolgung! Und kämpfen wir endlich für diese leidigen Luftfilter. Stoppen wir die Kinderdurchseuchung.
Sterben gehört zum Leben dazu, das ist mir bekannt. Ich finde es nicht gut, dennoch ist es ein Fakt. Aber wenn ich höre, wie das völlig unnötige qualvolle Ersticken zehntausender Menschen, von denen viele noch leben könnten, auf diese Weise romantisiert wird, könnte ich kotzen. Wo soll das denn enden? Sind die 95.000 Kinder, die durch die Klimakrise pro Jahr zusätzlich verhungern werden auch der natürliche Lauf der Dinge? Und was ist mit den jährlich 60.000 Menschen, die durch das wärmere Klima an Malaria sterben werden? Müssen wir etwas dagegen tun? Oder soll man es lassen? Die Kinderdurchseuchung ist nur der Anfang, wenn wir es zulassen.
Team Vorsicht hat verloren. Die Impfkampagne bewahrt uns trotz Kinderdurchseuchung vor dem Schlimmsten, aber in der Prävention haben wir so unfassbar versagt, dass wir mit der höchsten Übersterblichkeit Europas nicht nur in der Sache verloren haben, sondern wir es den Leugner*innen gestattet haben, praktisch das ganze Konzept öffentliche Gesundheit vermutlich auf Jahre irreversibel einzureißen und mindestens die gefährlichste faschistische Gruppierung seit PEGIDA zu errichten.
Wie oft wurde in der Pandemie darüber gesprochen, wie die Kultur leidet? Kultur ist das, was uns von den Tieren unterscheidet, sie besteht auch darin, dass in einer Zivilisation nicht nur das Überleben des Kollektivs zählt, sondern das jedes Leben eines Individuums respektiert und geschätzt wird, unabhängig davon ob es der Gemeinschaft nützlich ist oder nicht, bzw. ihr sogar Last auferlegt. Wenn die Pandemie unsere Kultur zerstört, indem wir uns nicht einmal mehr darauf einigen können, dass ein Menschenleben grundsätzlich zu schützen ist, haben die Coronazis in unseren Köpfen längst gewonnen.
Bleibt vorsichtig und gesund.
Joshua
Vielen Dank für diesen sehr wichtigen Artikel mit den vielen erschreckenden Dingen darin.
Jason
„Sehr gerne“ wäre gelogen, aber ich freue mich über die Rückmeldung. 🙂