Wir könnten einen Kipppunkt übersehen haben.
Eine Studie, die im Nature Geoscience erschienen ist und den Titel „Tipping point in ice-sheet grounding-zone melting due to ocean water intrusion“ trägt, könnte sich einreihen, in eine Reihe von Erkenntnissen, die eine Wendepunkt in der Klimaforschung zeigen.
Lange ergaben unsere Modelle, die viel größeren Eismassen der Antarktis seien im Vergleich zur Arktis verhältnismäßig träge und stabil. Anders als vom kleineren Grönländischen Eisschild gehe von der Antarktis in näherer Zukunft kein bedrohlicher Beitrag zum Anstieg des Meeresspiegels aus, da es Jahrtausende dauern würde, bis sie hinreichend destabilisiert seien.
Dieser Stand erwies sich jedoch in den vergangenen Jahren als nicht mehr haltbar:
- Das Eis schmilzt auch in der Antarktis viel zu schnell. So schnell, dass wir keine Erklärung dafür haben und kein Modell dieses Tempo vorhersagen oder erklären kann. Sowohl das vorgelagerte Meereis, für das lange gar kein eindeutiger Trend sichtbar war, als auch das wichtige Festlandeis, vollzogen in den vergangenen Jahren eine Wende – ihre Ausdehnungen stürzten ins Bodenlose.
- Schon in der Vergangenheit muss sich die Antarktis paläoklimatischen Untersuchungen zufolge unerklärlich verhalten haben. Im Pliozän vor etwa drei Millionen Jahren, als noch Giraffen durch Europa liefen, war zum letzten Mal vergleichbar viel Kohlendioxid in der Atmosphäre wie heute, die Temperaturen lagen etwa zwei bis drei Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau. Wir erhalten also einen guten Blick darauf, wie das Klima der Zukunft aussehen könnte. Der Meeresspiegel lag jedoch um sechs bis 40 Meter höher als heute. Ein derartig starker Anstieg lässt sich nur damit erklären, dass auch die antarktischen Eismassen bei der damaligen Erwärmung der Erde großflächig abschmolzen, anders als bisher modelliert.
Es gibt also zunehmende Evidenz dafür, dass in der Antarktis physikalische Prozesse ablaufen, die wir bisher nicht verstehen und berücksichtigen, die allerdings die Eisschmelze erheblich beschleunigen.
Einen solchen Prozess hat diese Studie nun ausfindig machen können: Die Grundzone, also der Bereich, in dem der auf dem Boden aufliegende Eisschild auf den Ozean trifft, ist durchzogen von einem komplexen System aus Rillen und Tunneln. Dort trifft das geschmolzene Süßwasser auf das immer wärmer werdende salzige Meerwasser.
Durch diese Tunnel kann warmes Meerwasser über eine gewisse Länge in den Eiskörper eindringen und dadurch zusätzliche Wärme transportieren. Das Eis wird praktisch von innen heraus destabilisiert und zerstört. Das mag nach einem kleinen, bisher unberücksichtigten Nebeneffekt klingen, doch die neue Studie zeigt, dass dieser Effekt ein echter Gamechanger sein und die Schmelzrate des Eises bis zu verdoppeln könnte. Die Hoffnung auf ein stabiles Südpolareis wäre damit endgültig hinfällig. Doch es kommt noch schlimmer.
Die Wissenschaftler*innen fanden heraus, dass zwischen Schmelzrate und der Veränderung der Grundzone eine positive Rückkopplung vorliegt: Je stärker das Eis abschmilzt, desto weiter kann das Wasser in das Eis eindringen. Und je weiter Wasser in das Eis eindringt, desto stärker schmilzt es.
„We reveal a sensitive dependence of the grounding-zone dynamics on this feedback: as the grounding zone widens in response to melting, both temperature and flow velocity in the region increase, further enhancing melting. We find that increases in ocean temperature can lead to a tipping point being passed, beyond which ocean water intrudes in an unbounded manner beneath the ice sheet, via a process of runaway melting.“
Wenn das schmelzende Eis schnell genug durch neues Eis ersetzt werden kann, gleichen sich die beiden aus und die Unterspülung nähert sich nach wenigen Tagen einem stabilen Grenzwert. Wenn die Ozeantemperatur aber zu hoch ist, stellt sich kein Gleichgewicht ein, sondern die Unterspülung geht gegen unendlich – es gibt dann keinen stabilen Endzustand, sondern einen völligen Kollaps des Eiskörpers.
Wenn wir uns nah an der Grenze zwischen diesen beiden Regimes befinden, reicht ein kleiner „Schubs“, also eine kleine Erwärmung des Meeres, die zu einer höheren Schmelzrate führt, um in den Bereich der ungebremsten Unterspülung zu rutschen. Es handelt sich um einen potentiellen Kipppunkt, wie die Forscher*innen auch selbst schlussfolgern. Ein Überschreiten könne ein rapides und unumkehrbares Abschmelzen zufolge haben.
Allein in der Antarktis liegt heute genug Eis, um den Meeresspiegel um 58 Meter anzuheben. Ein sich unkontrollierbar selbst verstärkendes Abschmelzen würde zu einem deutlich schneller ansteigenden Meeresspiegel fühlen. Schon länger erwägen Wissenschaftler*innen, dass der Weltklimarat IPCC die Prognosen zum Meeresspiegelanstieg zu optimistisch auslegt und nichtlineare Effekte unterschätzt.