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Wurden wirklich Menschen in Kälteschlaf versetzt?

Abbildung des menschlichen Körpers

Der Arzt Prof. Samuel Tisherman stellt eine potentiell revolutionäre Methode vor, Unfallopfer mit geringer Überlebenswahrscheinlichkeit zu behandeln: Therapeutische Hypothermie, also Kälteschlaf. Allerdings wurde darüber auch wieder eine Menge Unsinn berichtet… Was ist denn nun tatsächlich passiert?

Das Relevanzkriterium, das ein Thema braucht, um es in dieses Blog zu schaffen ist nicht, ob es auf der BILD-Titelseite erscheint, ich denke das ist soweit klar. Doch was mich fast mehr ärgert, als wenn Meldungen einfach aus der Luft gegriffen werden ist, wenn ein ernsthaftes und spannendes Thema aufgegriffen und dann kompletter Unsinn darüber berichtet wird. Hinter der Meldung, die es letzte Woche in die BILD schaffte, steckt nämlich ein sensationelles Unterfangen, welches tatsächlich das Potential hat, die Medizin zu revolutionieren, der Kälteschlaf. Darüber las man unter Anderem sowas:

„Medizin-Revolution: Erster Mensch tiefgekühlt und wiederbelebt“

bild.de

„Medizinische Sensation! Erster toter Patient tiefgekühlt und wiederbelebt!“

tag24.de

„Medizinische Revolution: Erster Mensch von Ärzten tiefgekühlt – und wiederbelebt“

focus.de

Wie bitte? All diese Titel erinnern doch sehr an die zahlreichen Meldungen, die es um die Jahrtausendwende gab, man habe Technologien entwickelt, um Menschen nach dem Tod zu konservieren, in dem man sie in -196°C kaltem flüssigem Stickstoff einlagert. Seit dem haben sich hunderte Menschen auf diese Weise konservieren lassen, was auch häufig fälschlicherweise als „Kälteschlaf“ bezeichnet wurde. Hat man es nun tatsächlich geschafft, einen dieser Menschen ins Leben zurückzuholen? Oder wie der SPIEGEL etwas differenzierter titelt:

„Kann man einen Patienten wirklich auftauen und wieder einfrieren?“

SPIEGEL ONLINE

Selbstverständlich nicht. Doch was ist nun wirklich dran an diesen Meldungen?

Niemand wurde „eingefroren“

Alles begann mit einer 2017 publizierten Idee des US-amerikanischen Arztes Samuel Tisherman. Er stellte die Idee vor, Menschen mit schweren Schuss- und Stichverletzungen, bei denen der Blutverlust bereits über 50% beträgt, mit sogenannter therapeutischer Hypothermie zu behandeln. Dabei wird die Körpertemperatur des Menschen von 37°C auf etwa 10°C bis 15°C gesenkt.

Und schon haben wir den ersten Fehler in den oben genannten Titeln. Niemand wurde hier tiefgekühlt oder eingefroren, denn der Gefrierpunkt des Wassers liegt bekanntlich bei null Grad Celsius. Kühlt man einen Menschen auf eine Temperatur, die deutlich darüber liegt, ist dies kein Einfrieren.

In einem Kühlschrank werden Waren schließlich auf noch niedrigere Temperaturen als zehn Grad Celsius gekühlt – und doch spricht niemand von Einfrieren, weil es sich physikalisch nun mal nicht um ein Einfrieren handelt. Es entstehen keine Eiskristalle und es erstarren auch keine Körperflüssigkeiten. Die therapeutische Hypothermie arbeitet mit Temperaturen weit über null Grad Celsius.

Anders ginge es auch gar nicht. Beim Einfrieren von Menschen würden Eiskristalle entstehen, die unsere Zellen platzen lassen würden, da das Volumen von Wasser unterhalb einer Temperatur von vier Grad Celsius wieder zunimmt (Anomalie des Wassers). Zwar gibt es Mittel, mit denen dies verhindert werden kann, doch diese sind giftig und davon, sie wieder aus dem Organismus entfernen zu können, sind wir noch weit entfernt.

Solche Temperaturen sind für die therapeutische Hypothermie aber auch gar nicht notwendig, denn 10-15°C Körpertemperatur reichen völlig dafür aus, dass der Mensch in eine Art Kälteschlaf verfällt – Wissenschaftler*innen sprechen von Stasis. Sobald sich der Mensch im Kälteschlaf befindet, wird ihm das restliche Blut aus den Adern gesaugt und durch eine kalte Kochsalzlösung ersetzt.

Zu diesem Zeitpunkt ist der Mensch klinisch tot. Es gibt keine Atmung, kein Herzschlag und selbst die Gehirnaktivitäten fallen aus nahezu null. Ein*e Ärzt*in, der*dem man diesen Menschen vor fünfzig Jahren gezeigt hätte, würde wohl sofort den Totenschein unterschrieben. Doch seit einigen Jahren wird dieser Zustand etwa bei Herzstillstandspatienten in besonders schweren Fällen sogar absichtlich herbeigeführt.

Halt, nächster Punkt: Es ist also gar nicht gesagt, dass es sich um den ersten Menschen handelt, der in Kälteschlaf versetzt wurde. In der Fachzeitschrift New Scientist wurde lediglich publiziert, dass Tisherman wohl mehrere Patient*innen mit schweren Schuss- und Stichverletzungen mit therapeutischer Hypothermie behandelt hat.

Wie funktioniert Kälteschlaf wirklich?

Liegt der Mensch mit Salzlösung in den Adern im Kälteschlaf, soll die lebensrettende Operation durchgeführt und die Verletzungen geheilt werden. Dafür hat die*der Ärzt*in statt weniger Minuten dann bis zu zwei Stunden Zeit. Der Grund dafür ist, dass Kälte chemische Reaktionen verlangsamt, da sich Teilchen in kalter Umgebung langsamer bewegen.

Auch der Tod – etwa das Absterben der Hirnzellen – ist nicht anderes als ein chemischer Prozess. Kühlt man den Körper auf zehn Grad Celsius, läuft dieser viel langsamer ab und somit bleibt mehr Zeit, bis irreparable Schäden an unserem Denkorgan entstehen.

Das klingt schön und einfach. Der Körper wird durch Infusionen gekühlt, der Patient schläft ein, das Blut wird aus dem Körper gepumpt, die Kochsalzlösung rein. Und dann wird operiert. Doch nicht grundlos genehmigte die örtliche Ethikkommission die Eingriffe nur bei Menschen mit einer Überlebenswahrscheinlichkeit von unter fünf Prozent. Denn es ist bis heute (!) nicht sicher, ob das Zurückholen aus dem Kälteschlaf überhaupt funktioniert.

Richtig gehört: Wir wissen gar nicht, ob diese Menschen tatsächlich wiederbelebt wurden. Dies soll in der Theorie dadurch funktionieren, dass die Körpertemperatur wieder auf die üblichen 37°C gebracht, das Blut wieder in den Organismus gepumpt wird und der Herzschlag durch Reanimation wieder hergestellt werden soll.

Es war also nicht der erste Mensch, der in Kälteschlaf versetzt wurde, er wurde nicht tiefgekühlt und auch nicht mit Gewissheit wiederbelebt.

Letztlich bleibt also nur ein Part der oben gezeigten Titel, an dem tatsächlich etwas dran ist, nämlich der erste: Medizin-Revolution. Ja, das ist ein bedeutender technologischer Fortschritt. Menschen, der Überlebenswahrscheinlichkeit vorher gegen null ging, die mehr als die Hälfte ihres Blutes bereits verloren haben, könnten dadurch gerettet werden.

Vielversprechende Technologie und ethische Debatte

Auch nach mehreren Stunden ohne Herzschlag oder spät erkannten Schlaganfällen könnte die Hypothermie den Mediziner*innen genug Zeit verschaffen, um lebensrettende Maßnahmen im Kälteschlaf zu ergreifen. Doch es wirft auch ein ethisches Problem auf: Die nach der Definition des Todes. Diese hat sich in der Geschichte immer weiter verschoben.

Vor Jahrhunderten galt ein Mensch als tot, sobald er für eine längere Zeit ohnmächtig war oder keine Atmung mehr nachzuweisen war. Oft hielt man der Person lediglich einen Spiegel vor den Mund und beobachtete, ob er beschlägt. So kam es auch immer wieder dazu, dass Menschen lebendig begraben wurden und dann erst im Grab tief unter der Erde wieder zu sich kamen. Aus Angst davor hinterließen viele berühmte Persönlichkeiten sogar Briefe, in denen Vorkehrungen festgehalten wurden, um dies zu verhindern, etwa Arthur Schopenhauer und Arthur Schnitzler.

Mit der Zeit gab es Fortschritte: Puls, Gehirnaktivitäten und Pupillenreflex wurden zu neuen Lebenszeichen und konnten zuverlässig festgestellt werden. Grundlegend verändert wurde unser Denken über den Tod mit dem Fall der schwedischen Ärztin Anna Bågenholm. Sie stürzte 1999 bei einem Skiunfall in einem zugefrorenen Bach und verbrachte 80 Minuten teils bewusstlos unter Wasser eingequetscht zwischen zwei Felsen. Als das Rettungsteam ankam und sie mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus brachte, hatte sie eine Körpertemperatur von 14,4°C, der Pupillenreflex war nicht vorhanden, es gab keinen Herzschlag mehr. Mit der Zeit sank die Temperatur auf 13,7°C. Damit war Bågenholm klinisch tot.

Dennoch versuchte man alles und pumpte das Blut ab, erwärmte es außerhalb des Körpers und fügte es ihr wieder zu. Und tatsächlich: Die Wiederbelebung gelang, sie kam wieder zu sich und sie blieb ohne Folgeschäden, vermutlich deshalb, weil ihr Körper im Eisbach extrem schnell stark gekühlt und damit konserviert wurde. Spätestens damals zeigte sich: Die früheren Todeskriterien sind mit der aufkommenden Intensivmedizin unbrauchbar geworden. Diese Debatte dürfte durch die zunehmende Anwendung des Kälteschlafs in der Medizin nun noch stärker geführt werden.

Daher könnte der Kälteschlaf tatsächlich eine „Medizinische Revolution“ werden, auch ohne hinzugedichtete oder schlicht falsche Bestandteile. Er wirft ein neues Licht auf eine ethische Debatte und vor allem könnte er viele Menschenleben retten – darum geht es schließlich. Um zu wissen, ob die Eingriffe allerdings wirklich erfolgreich waren, müssen wir noch etwas warten. Die entsprechende Arbeit, in der auch ausgeführt werden soll, wie viele solche Eingriffe Tisherman durchgeführt hat, soll Ende 2020 erscheinen.

In Zukunft könnte die Technologie eventuell noch verfeinert werden. Beispielsweise könnte die Spanne, in der ein Mensch ohne bleibende Schäden im Kälteschlaf verweilen kann, verlängert werden, was Ärzt*innen noch mehr Zeit gäbe. Es wird auch an einem Medikamenten-Cocktail geforscht, der die anschließende Wiedererwärmung des Körpers erleichtern und Zellschäden verhindern könnte. Lässt sich der Prozess automatisieren, ergäben sich auch spannende Anwendungsmöglichkeiten für die Raumfahrt. Doch Tisherman kam im New Scientist auf das Wesentliche zurück:

„Ich möchte klarstellen, dass wir nicht versuchen, Menschen zum Saturn zu schicken. Wir versuchen, mehr Zeit zu gewinnen, um Leben zu retten.“

Samuel Tisherman

Und wenn überhaupt, dann wäre auch vor dem Saturn sowieso zuerst der Mars dran.

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