Hannover 96-SC Freiburg, 23.05.2015
Die Skurillitäts-Messlatte für die Kriterien, welches Spiel die Wochenendrebellen als nächstes für einen Besuch auswählen, liegt dank des Sohnes eigenartiger Auswahlprozesse ziemlich hoch. Umso schöner, dass er seiner Schwester den Vortritt ließ, zu entscheiden, wo sie ihr zweiter Stadionbesuch hinführen soll.
„Rot gegen Grün“, antwortete sie ihm schnell und zielsicher, und wenn man an diese Farben in der Bundesliga denkt, dann landet man natürlich automatisch bei zwei Vereinen. Hannover gegen den SC Freiburg hieß unser Spiel für das Wochenende.
Der Abstiegskampf-Krimi sollte einen würdigen Saisonabschluss der Wochenendrebellen bilden, der dann doch beim RB Leipzig stattfand. Aber dazu ein andermal.
Die Tickets für uns drei waren bereits gebucht, als der Sohnemann mir seine missliche Lage schilderte. Er hatte eine Einladung zu einem Geburtstag zugesagt, sich um den Termin an sich aber keine großen Gedanken gemacht. Nun, zwei Tage vor dem Spiel, bemerkte er seinen Fauxpas und bat mich in seiner unnachahmlichen Art um Hilfe.
„Verschieb das Spiel,“
„Ruf an, der soll seinen Geburtstag an einem anderen Tag feiern!“
„Lös! Das! Problem!“
Eine Absage des Geburtstags stand eigentlich nicht zur Diskussion. Er wird nicht so häufig eingeladen, und selbst wenn dies einmal geschieht, dann hat man bei ihm nicht das Gefühl, dass er dort gerne hingehen würde. Das war dieses Mal anders. Ich vermag nicht einzuschätzen, ob er den Jungen gerne mag, oder ob er einfach Bock darauf hatte, Bowlen zu gehen, was wohl Rahmenprogramm des Geburtstags sein sollte. Es ist auch nicht auszuschließen, dass er nun einfach eine Lösung wollte, weil er schließlich zugesagt hat, und sich nun wieder einmal nicht entscheiden kann, was er nun machen soll. Ich bot ihm an, dass wir am Sonntag, quasi als Ersatz, zu einem Spiel der zweiten Liga fahren können, was er nach ein paar weiteren Zugeständnissen auch akzeptierte. Im zweiten Schritt war dann geplant, der Tochter zu erklären, dass wir am Samstag nicht ins Stadion fahren und die Tickets dann einfach kurzfristig verkaufen. Sie würde Verständnis dafür haben und hatte wahrscheinlich sowieso keine Lust, mit ihrem Papa alleine ins Stadion zu fahren.
Ich war ziemlich angetan von der Stimmung in Hannover. Gut, es war sicherlich auch der extremem Situation geschuldet, dass man dem gesamten Stadion von der ersten bis zur letzten Minuten beim lautstarken Support lauschen konnte. Die Tochter war natürlich nicht einverstanden, auf den Trip zu verzichten, und auch der Ausblick darauf, einfach deutlich mehr Zeit im Zoo zu verbringen, missfiel ihr. Der Zoobesuch war ursprünglich als kleines Stadion-Warm-Up angedacht und ich hoffte, wenn sie schon nicht auf den gesamten Ausflug verzichtete, vielleicht konnte sie eine Erweiterung des Zooprogramms überzeugen, auf den Besuch des Spiels zu verzichten.
In der Zwischenzeit machte man mich auf Twitter darauf aufmerksam, dass es vielleicht auch nicht so ganz fair ist, als neutraler Zuschauer zu einem Spiel zu fahren, dessen Ausgang für uns nicht von großer Bedeutung ist. Ein nachvollziehbarer Einwand, über den ich mir bis dato keine Gedanken gemacht hatte. Klar, es gibt sicherlich kein Gesetz, welches nur Fans der teilnehmenden Vereine zum Besuch eines Spiel legitimiert, aber ich konnte den Punkt nachvollziehen, auch wenn es bei uns nicht klassisch eine Tour des Eventes wegen ist, bzw. bei Jay-Jay die Unterscheidung zwischen VFR Aalen gegen SV Sandhausen und Inter Mailand gegen Lazio Rom nicht so groß ist, wie das vielleicht bei 99,5 % der Fans, Sandhäuser und Aalener eingerechnet, der Fall wäre.
Auf dem Platz zu sitzen von jemandem, der vielleicht viel intensiver miterlebt, sein Team mehr unterstützt und der vielleicht in vielen Jahren zurückblickt und den Moment im Stadion, als sein Team die Klasse gesichert hat, als einen seiner größten Fußballmomente in Erinnerung behält; fühlte sich trotzdem nicht zwingend richtig an. Andererseits sind dies vielleicht die Spiele, die dich zum Fan eines Vereins machen, wenn man die eigentliche Intention unseres Projektes berücksichtigt. Schwierig, denn ich möchte ihn auch nicht fiebernd vor dem TV bei einem Relegationsspiel dem HSV in die Hände gleiten lassen. Vermutlich läuft es auf einen Mittelweg hinaus. Abstiegsendspiele werden wir wohl so in der Form nicht mehr besuchen, es sei denn, es gibt auch wenige Tage zuvor noch Karten im freien Verkauf, so wie es hier in Hannover aber ebenfalls auch noch der Fall war. Geht es um den Aufstieg, die Meisterschaft und um das Finale eines Pokals, sehe ich es vielleicht nochmal ein wenig anders, aber das würde nun im Detail zu weit gehen. So fuhr ich eben nur mit der Tochter nach Hannover und konnte mich mit dem Verschenken des Tickets für das geschenkte Ticket in Nancy revanchieren. Also zumindest so auf Karma-Ebene.
Dem stark angetrunkenen Kasper neben mir habe ich dann die einzigen zwei mulmigen Minuten nach Spielschluss zu verdanken. Wir saßen unmittelbar unterhalb des Freiburger Gästeblocks. Die Stimmung war entsprechend angespannt. Ich hatte übrigens nicht den Eindruck, dass die Aggression vom Freiburger Block ausging. Da war viel Trauer, Wut und Enttäuschung, die sich aber bis dato nur durch einen präsentierten nackten Hintern und einige Pfiffe darstellte, weil sich außer dem Trainer Streich niemand des Teams aufrichtig beim Gästeblock bedankt/verabschiedet hat. Die Problematik begann, als einige Hannover-Fans anfingen, den Gästeblock zu provozieren. Der Gästeblock wurde mit den Handys von mehreren H96-Fans gefilmt und die Bitte, das zu unterlassen, die aus dem Block nicht höflich, aber der Situation durchaus angemessen, geäußert wurde, blieb zwar nicht ungehört, aber es wurde ihr nicht entsprochen. Im Gegenteil, mit diversen Gesten vom Mittelfinger über Onanie-Pantomime bis zur eindrucksvollen Darstellung, man würde sich Tränen aus dem Gesicht wischen, war alles dabei. Die Ordner sahen dem Treiben munter zu, was ich nicht zwingend als Kritik verstanden wissen möchte, aber vielleicht hätte man es da doch besser unter Kontrolle bekommen können. Die Kapuzen huschten über die Köpfe, die Halstücher wurden über Mund und Nase gespannt und als die Sonnenbrillen in der ersten Reihe des Gästeblocks trotz schattiger Plätzchen Überhand gewannen, war glücklicherweise mit genügend Vorlauf klar, dass man hier mit einem Kind einen längeren Aufenthalt vermeiden sollte. Da der Block S8 aber nur zu Verlassen ist, wenn man unterhalb des gesamten Gästeblocks vorbeigeht, entschieden wir uns für die Variante, den kurzen Münz- und Feuerzeugregen, den ein vorm Gästeblock tanzender Hannover-Fan auslöste, hinter einem Blockmasten zu verbringen.
Die Tochter war begeistert. Sie wollte von Anfang an nicht auf den Stadionbesuch verzichten.Es war mir zeitweise wirklich unangenehm, dem brisanten Spiel mit meiner emotionalen Unbeteiligung und der Herangehensweise meiner Tochter beizuwohnen.
„Warum darf der gelbe Mann in die Hand nehmen?“
„Wo ist der Schienslichter?“
„Walum klicht der keine glüne Kahte? Oder eine gelbe?“
Sie klatschte eifrig mit, als der Freiburger Gästeblock in der ersten Spielminute den Ton angab, und klatschte genauso weiter, als dann die Fans von Hannover 96 das Zepter in die Hand nahmen. Das unangenehme Gefühl, wirklich fehl am Platz zu sein, wich der Freude, zu sehen, wie viel Spaß sie hatte.
Jay-Jay war währenddessen auf einem Geburtstag, weil er sich wohl dem Jungen gegenüber verpflichtet fühlte, hinzugehen. Er weiß, was Absagen bedeuten. Er kassierte ja genügend auf seinen Geburtstagen, wo wir schon meist bezüglich der Anzahl über Gebühr einladen, damit wir nicht am Ende zu viert feiern. Oftmals sind die Gegenbesuche der direkten Nachbarschaft oder dem guten Verhältnis zu den Eltern des eingeladenen Kindes geschuldet. In keinem der Fälle ist es Besuch, der zu Jay-Jay eine freundschaftliche, enge Beziehung pflegt.
Das Thema Freundschaft ist weiterhin ein mit üppigen Problemen unbestelltes Minenfeld.Die Klassenkameraden wechseln im Sommer in Verbindung mit einem Schulwechsel, und die Cliquen innerhalb der Klasse sind alle gebildet. Ohne Jay-Jays Teilnahme.
Jay-Jay versichert uns auch ziemlich glaubhaft, dass ihn das nicht stört, oft alleine zu sein bzw. im Schwerpunkt mit uns zu spielen, zu lesen, draussen unterwegs zu sein. Eher selten kommt mal ein Junge zu Besuch. Und wenn dies mal der Fall ist, braucht er nach seinem Besuch bei uns erst einmal ein paar Tage Regeneration, bis er sich wieder traut, Kontakt aufzunehmen. Jay-Jay kann mit Worten sehr ruppig sein. Trotzdem steht seine Tonalität und Lautstärke und ihre Heftigkeit dem aggressiven Inhalt seiner Aussagen in nichts nach.
„Der kann sich verpissen, wenn er sich noch einmal an meiner Legostadt vergreift.“
Vielleicht steht nach dem Spielen der Lego-Bahnhof nicht mehr an der gleichen Stelle, oder das Legomännchen, welches vor der Lego-Pizzabude steht, schaut nicht mehr in die richtige Richtung. Dies kann durchaus ausreichen, um den Besuch des Klassenkameraden abrupt zu beenden.
Bei Lars war das anders. Zwischen den beiden schien es zu funktionieren. Vielleicht könnte er sogar guten Einfluss auf ihn haben. Er war direkt und ohne große Berührungsängste. Auch uns gegenüber. Zwischendurch kam er runter und sagte, er hätte Hunger. Das passierte während der Besuche auch durchaus drei oder vier Mal.
„Ey, Alter. So kannste echt nicht mit deinen Eltern reden. Das ist ziemlich respektlos.“
„Na und, ich darf das hier. Ich bin nämlich hier der Chef. Meine Eltern haben mir gar nichts zu sagen. Ich bin für mich selbst verantwortlich.“
Wir stehen dann recht unbeteiligt daneben, wenn sich der Junge mit dieser Konversation von Jay-Jay verabschiedet. Es ist nicht so, dass die Kraft nicht da wäre, es auszudiskutieren, wobei es sicherlich auch ähnliche Entscheidungen mit ähnlicher Tendenz gibt, die mangels Kraftlosigkeit so entschieden worden wären.
In diesem Fall ist tatsächlich so, dass wir abwägen, was wir alles noch zulassen müssen, damit vielleicht auch nochmal einer der Jungen zu Besuch wiederkommt. Eine weitere Eskalation, mit einem mittlerweile zehn Jahre alten Jungen von satten 30 kg, ist eben auch was anderes, als der Fünfjährige, den ich im Zweifelsfall auch um sich schlagend auf die Schulter hieven kann, um ihn in sein Zimmer zu verfrachten. Das geht nicht mehr. Daher vermeiden wir insbesondere in dem Zusammenhang mit Besuch von Jay-Jays Schulkameraden möglichst jede Eskalation. Eskalation heißt in unserem Fall meistens, dass sie nur zu vermeiden ist, wenn wir „zulassen“. Der Wut, Trauer, Ärger, Hass, was auch immer ihn antreibt, ein Ventil geben.
Jede ruhige Minute ist eine gute Minute und eine Minute, in der er vor einem Klassenkameraden den Macker spielt, ist unserer Meinung nach eine gute Minute.
Auch wenn er Gefahr läuft, sich bei den Jungs lächerlich zu machen. Das wäre so ziemlich die unglücklichste Entwicklung. Dies würde aber voraussetzen, dass der Junge, der zu Besuch ist, einzuschätzen weiß, warum wir Jay-Jay uns gegenüber mit seinen Unverschämtheiten und Respektlosigkeiten so gewähren lassen. Es ist weiterhin durchaus hart, die Blicke der beteiligten Nachbarn oder der Eltern von Klassenkameraden, die wir kennen, zu sehen, wenn Jay-Jay sein Tiraden im Supermarkt oder bei Verwandtenbesuchen loslässt. Bei den Blicken der umstehenden Personen ist dann auch wirklich alles dabei. Der Vorwurf der Unfähigkeit als Eltern, die, die es uns als Arroganz auslegen, die, die der Meinung sind, man könnte dem Problem auch durch körperliche Züchtigung beikommen, und natürlich die, die genau wissen, wie man sich jetzt eigentlich zu verhalten hat, um den jungen Mann in seine Schranken zu weisen. Es ist erstaunlich, aber auch logisch, welche Reaktionen sein Auftreten bei Menschen verursachen kann. In beide Richtungen. Es gibt ja auch Situationen oder Treffen mit Menschen, die gar nicht fassen können, was für ein aufgeweckter, amüsanter und unterhaltsamer Kerl er sein kann.
Trotzdem klappte da eben nichts mit Freunden oder so. Bis vor ein paar Wochen eben besagter Lars das erste Mal zu uns kam. Vom ersten Besuch an lief es mit dem ein Jahr älteren und körperlich wesentlich weiteren Jungen recht gut. Er kam fast täglich zu uns und verschwand umgehend mit Jay-Jay in seinem Zimmer. Dort herrschte dann meistens für eine längere Zeit Funkstille. Eine Situation, die es sich eigentlich zu genießen lohnt.
Ein oder zwei Stunden am Nachmittag, wo meine Frau ihn nicht bespaßen und beschäftigen muss, keine launischen Ausraster, keine Provokationen seiner Schwester gegenüber, Ruhe auch für unsere Nachbarn. Herrlich. Wir wagten es kaum, die beiden oben zu stören, und nur gelegentlich riefen wir hoch, um die Rückmeldung zu erhalten, dass bei ihnen oben alles bestens sei.
Antwortete Jay-Jay die ersten Tage abends noch relativ gelangweilt, dass sie entspannt hätten, was er lt. seiner Aussage eigentlich vierundzwanzig Stunden tut, so differenzierte er nun doch ein wenig, als ich ihn erneut fragte, was sie denn da oben so treiben.
„Lars zockt am Computer, und ich lese meistens.“
Ärgerlich. Lars war eigentlich nicht wegen Jay-Jay hier, sondern weil er hier über einen von dümmlichen Eltern ungeschützten Computer mit Internetanschluss verfügen kann. Völlig ungestört. Und Jay-Jay war es egal, wer da noch rumsaß. So lange er jemanden in seiner Nähe hat, verbringt er gerne Zeit in seinem Zimmer.
Er liebt sein Zimmer, oder besser gesagt, seine beiden Zimmer, die individuell, seinen abstrusen Ansprüchen gemäß, eingerichtet wurden. In einem Zimmer herrscht das Thema Weltraum vor. Eine Erdkugel-Lampe, mehrere Sternengebilde als Poster, sowie das Planetensystem an einer Wand dargestellt, mit Hilfe von einzelnen Wandtattoo-Planeten.
Ich erinnere mich gerne an die Zeit, wie er mir bei der Einrichtung vorrechnete, welche Abstände wir einzuhalten hätten, damit der Maßstab bei den Entfernungen der einzelnen Himmelskörper stimme. „Okay, dann gibt es eben keine Sonne,“ habe ich ihm gedroht, woraufhin er einlenkte, unter der Berücksichtigung, dass dies wohl in Ordnung sei, da der Durchmesser der Klebeplaneten ja ebenfalls nicht in sinnigem Verhältnis zu ihrer jeweiligen tatsächlichen Größe sei.
„Wo hast du die Planeten her? Was sind das denn für Idioten. Nichtskönner.“
Er nötigte mich damals, den Hersteller anzuschreiben, damit dieser sich für diesen groben Bock entschuldigen kann. Zum Glück habe ich die E-Mail nie versandt.
In diesem Zimmer steht auch sein Raketenhochbett und die technischen Utensilien, um noch eine Folge Podcast zu hören, wenn er abends zu Bett gehen soll.
Er hört bunt, schläft aber mittlerweile am schnellsten bei Collinas Erben (Sorry!) ein. Schlimm sind wissenschaftliche Podcasts zum Thema Universum. Da kämpft er extrem lange gegen den Schlaf an, weil er Angst hat, dass ihm dort Wissen flöten geht.
In diesem Zimmer steht auch seine gebaute Legostadt. Da fahren natürlich die Züge durch die Gegend und auch wenn die ganze Stadt nach reinstem Lego-Chaos aussieht, hat alles seinen festen Platz. Hier duldet er, dass die Stadt München keinen Kopfbahnhof hat („Ich hab München-Pasing gebaut“) und hier sieht er über fehlende Logik im Bebauungsplan generös hinweg. Das ist sehr schön für uns.
Das zweite Zimmer ist das Fußball-Zimmer. Er nennt es mittlerweile seine Entspannungsoase und die Geschichte dazu, wie es zu der Bezeichnung Entspannungszimmer kam, erzähle ich vielleicht lieber ein anderes Mal.
Thematisch regiert hier aber König Fußball. An einer Wand hängen all seine Devotionalien aus den Stadionbesuchen. Eintrittskarten, Ausschnitte aus Zeitungen, Klatschpappen, Getränkebecher, Aufkleber, kleine Give-aways und natürlich ein Teil seiner Schals.
In diesem Zimmer hat er seit Ende letzten Jahres einen Computer mit Internetanschluss. Er braucht dies immer mal wieder, um für die Schule etwas zu recherchieren, und er liebt die Dokumentationsvielfalt von Youtube und hat auch dort seine angefangenen Blogbeiträge gespeichert. Man mag die Einrichtung eines eigenen Computers für überdimensioniert halten, wenn es um einen Neunjährigen geht, aber wir hatten null Sorgen bezüglich seines verantwortungsvollen Umgangs mit dem Internet und wollten einen Anreiz schaffen, sich mit Themen, die ihn interessieren, auseinander zu setzen.
Schach, Landkarten, Städtekennzahlen wie Einwohnerzahl und Fläche interessieren ihn, genau so wie Berghöhen und Ozeantiefen. Er kann Stunden mit Google Earth verbringen, wenn er mit seinem Opa in dessen Büro sitzt. Aber er akzeptiert Regeln im Umgang mit Computern. Seinen eigenen Twitteraccount nutzt er nur im Beisein meiner Frau oder mir und eine intensive Kontrolle des Google-Verlaufs bestätigte jeden einzelnen Clip, von dem er uns berichtete, und der keinerlei Anlass für Sorgen machte.
Er lügt uns auch nicht an. Da kann man sich hundertprozentig drauf verlassen. In zweifelhaften Situationen, gleich auf welcher Seite die Zweifel sind, geben wir uns zur Versicherung der Aussage seit Jahren die Hand. Für ihn ist das wahnsinnig hilfreich, weil er uns so bei jeder Notlüge entlarven kann und es ihm die Gewissheit gibt, dass wir ihm keinen Unsinn erzählen, und für uns ist es enorm wichtig, ihn zu schützen, wenn es nach einer Eskalation mal wieder Ärger für ihn gab, obwohl er vielleicht in diesem einen von hundert Fällen auch mal nicht der Schuldige gewesen ist, der die Provokation hervorgerufen hat. Wen er dies in die rechte Hand verspricht, oder eben den Handshake verweigert, wissen wir immer was los ist. In dem Zimmer steht noch sein Stadion für sein Tipp-Kick-Spielfeld, womit man aber nie spielen kann, weil man sonst das Stadion kaputt macht, und eine Couch mit einer Leselampe, vielleicht etwas mit Potential für seinen Ruhe- und Rückzugsort, so hofften wir.
Seit neustem stehen in seinem Zimmer auch eine Cocktailbar, ein Springbrunnen, ein Teleskop, ein Mikroskop, eine zusätzliche Lampe mit Lichtwechseleffekten. Man könnte behaupten, wir haben den Überblick verloren. Aber irgendwie hat das alles so seine Richtigkeit. Auch wenn er, wie gesagt, nie oben ist. Also alleine. Auch nachts nicht. Würden meine Frau oder ich nicht mit ihm in sein Zimmer gehen, wäre er vermutlich niemals oben. Ich hatte schon überlegt, ob ich vielleicht umziehen sollte. Zumindest nachts, denn die Vierjährige weigert sich natürlich auch erfolgreich, ebenfalls in ihrem Zimmer zu schlafen, was für unkomfortable Nächte sorgt.
Die einzige Möglichkeit ist, sich mit Jay-Jay in sein Bett zu legen und auf die Podcastauswahl zu hoffen, da man sivh sonst garantiert nachts plötzlich erwacht, mit schmerzenden Knochen, in einem viel zu kleinen Hochbett wiederfindet, welches man auch nur über eine Rutsche leise wieder verlassen kann, weil man nicht mehr die notwendige Statur hat, den Raketeneingang über die Leiter zu nehmen. Ich schlafe fast immer vor ihm ein, daher ziehen wir diese Option nur noch selten.
Man sieht, runtergebrochen sind unsere Probleme mit Jay-Jay, aus dem richtigen Blickwinkel betrachtet, als relativ klein und nichtig erkennbar, aber das Knüpfen von Kontakten zu Gleichaltrigen entwickelt sich zu einem großen Problem.
Da ist halt mal so rein gar niemand, der dir auf dem Schulhof beisteht, wenn die großen deine Brotbox plündern wollen und für jemanden, der gerne diskutiert, wer auf welchem Platz zu sitzen hat und wer vielleicht auch nicht neben ihm oder ihm gegenüber sitzen darf, sind Schulbusse ohne Bekanntschaften oder Freunde auch Feindesland. Dies veranlasste uns dazu, Lars‘ Besuche nicht zu fördern, aber eben auch keinesfalls in irgendeiner Art und Weise zu stören.
Lars zockte Minecraft. Zumindest bis zu dem Tag, wo Jay-Jay mir vom üblichen Ablauf während Lars‘ Besuchen berichtete. Es war nur eine Einrichtung einer FSK-12-Sperre später, und Lars kam ein letztes Mal.
Dumm von uns, dumm für uns, für Jay-Jay aber keine große Sache.
Ich versuchte, mich in Jay-Jays Lage zu versetzen, und befürchtete er wäre tief enttäuscht, dass sein Computer in Lars‘ Beliebtheitsranking wohl über ihm stehen würde und suchte das Gespräch mit ihm, in der Hoffnung, seine Betroffenheit lindern zu können.
Er empfand das gar nicht nicht so, dass Lars ihn ausgenutzt hatte, als Zugang in die Ballerspielwelt, die ihm seine Eltern vermutlich zu Hause vorenthalten oder streng eingrenzen. Jay-Jay empfand dies als absolute Win-Win-Situation.
„Wieso? Ich bin nicht oben alleine und kann machen, was ich machen möchte und er geht mir nicht auf den Sack. Das war schon okay so.“
Er war zufrieden mit der Einteilung. Immer und immer wieder hören wir aus Gesprächen heraus, dass er das ganz gut findet, dass er keinen Freund hat.
Er will keinen Freund haben und ich habe keine Ahnung, ob wir lernen das zu akzeptieren.
Anita
Hallo Rebell,
ja, solche „Freundschafen“ hatten wir auch……………………… einige…………………….
Bei den beiden Großen trat die Änderung erst ca. mit 15 Jahren ein………. und diese Menschen sind einfach genauso anders wie meine Kinder! 💡 🙂
Und ja, meistens ist es eher ein nebenher als ein Miteinander!
Außer, sie tauschen sich per Whatsapp aus! Dann ist es intensiver, aber weil keine räumliche Anwesenheit, auch einfacher!
Bei dem Jungen hattet Ihr noch richtig Glück! Bei uns wurde anderes dann „ausprobiert“ und das hatte dann den Rausschmiss der Personen zur Folge.
Die Kleine ist etwas ruhiger, aber auch hier überwiegt eindeutig, dass die Freundinnen fast genauso sind, wie sie selber.
Und der Zwerg mit seinen 8 Jahren………….. der wird wohl noch ein Weilchen warten.
Aktiv Freundschaften „fördern“, wie uns Therapeuten und Ämter immer nahelegen, dass haben wir dran gegeben. Es stresst nur. Entweder die verstehen sich oder eben nicht!
Und wenn es Deinem Jungen so gut geht, dann reicht das vollständig. 🙂
Wenn die Ausdrücke in Gegenwart Fremder nicht mehr akzeptabel sind, schließe ich mich dem Kiezkicker an! Das darfst und musst Du in irgendeiner Form „ausbremsen“.
Ich weiß, dass man nicht jeden Kampfplatz betreten möchte. Aber es wird die Zeit kommen, wo dann die anderen „Kinder“ auch keinen Respekt mehr vor Euch haben. Behalte das im Blick. 😉 Und auch Autisten dürfen lernen, wie man sich wo benimmt und was man sagen kann/darf und was eben nicht!
LG Antia
davednb
ich dachte mir eben was ähnliches – die Definition der Freundschaft mag ggfs einfach beim Sohnemann anders sein als bei Euch – bzw die Erwartungshaltung an eine Freundschaft. Ich lese da eher ein „der lässt mich in Ruhe chillen aber ich bin nicht alleine“ aus seiner Sicht heraus und nicht notwendigerweise eine „wir diskutieren über Gott und die Welt am Lagerfeuer“.
Schön geschrieben btw, ich lese die Blogbeiträge wirklich sehr gerne, auch wenn ich nicht immer kommentiere.
KiezkickerDe
Lustig. Das, was du im letzten Satz schreibst ist ziehmlich genau das, was ich auch heute noch, als knapp 40-jähriger, von meiner Mutter ständig zu hören bekomme. „Junge, du musst dir doch mal Freunde suchen, jeder braucht jemanden, mit dem er reden kann“…
Nö, muss ich nicht.
Und wenn, könnte es ähnlich wie bei JayJay ablaufen, dass sich da Zweckgemeinschaften bilden, wo man Dinge miteinander tun kann (nicht zwingend die jeweils gleichen), die alleine eben nicht so viel Spass machen. Bei diesen Freundschaften – ich glaube, die sind so relativ typisch für Autisten? – geht es in der Tat also nur am Rande um die jeweils andere Person, weil viel von diesem sozialen Schnickschnack – Klönschnack eh wegfällt. Man sucht sich also nicht zwingend Freunde, die man vom persönlichen her mag, sondern hauptsächlich deswegen, weil sie ähnliche Interessen haben. Oder weil man sie persönlich für etwas braucht (nicht alleine im Zimmer sein). Aber man braucht sie weniger der Freundschaft als solche wegen, sie sind gewissermassen austauschbar, solange die nächste Person dann ähnlich gut funktioniert.
Und da glaube ich ihm, dass es ihn nicht stört, dass sich der andere eher weniger für ihn als für den Rechner interessierte – er interessierte sich ja auch mehr für Gesellschaft als für den Jungen als solches. Da wird er sich logischerweise auch nicht bei ausgenutzt gefühlt haben, denn er hatte ja seine Gesellschaft als Gegenwert dafür, dass er seinen Rechner nutzen konnte.
Was ich jetzt nicht so ganz verstehe: Was soll dann eine Sperre, wenn der da eh nur Minecraft spielte? Warum hast du das nicht einfach laufen gelassen?
Du hast Probleme, deinen 30 Kilo- Sohn auf die Schulter zu wuchten und ins Zimmer zu transportieren, was aber bei einem fünfjährigen (dann wohl etwa „20 Kilo-Sohn“) noch ging? *Schlappschwanz* :o) Andere 10-jährige haben gerne auch mal 10 Kilo mehr drauf (huhu, kleiner Bruder von damals), da ging das bei meinem Vater doch auch. Sah lustig aus, wie das kleine Pummelchen immer von meinem Vater ins Zimmer verfrachtet wurde und ich als alter Bruder dann grinsend daneben stehen konnte…
Achja, wegen den unflätigem Auftreten in Gegenwart der Klassenkameraden: Werf dann halt ein „Da sprechen wir nachher drüber, wenn wir alleine sind“ ein. Wirkt dann für die Klassenkameraden nicht so, als ob ihr euch das einfach gefallen lasst, stellt ihn aber auch vor seinen Klassenkameraden nicht bloss, indem du es in deren Gegenwart ausdiskutierst. Musste dann natürlich hin und wieder wirklich abends ausfechten, aber sicher auch nicht jedes Mal. So lief das bei mir früher zumindest. Meist wurde dann abends doch nicht drüber gesprochen, das wusste ich, dachte mir meinen Teil, und letztlich war mir klar, dass meine Eltern halt meinen „Freunden“ gegenüber nur ihr Gesicht wahren wollten – und ich eh die abendliche Diskussion gewinnen würde (dachte ich jedenfalls). Und ich konnte mich aufspielen…
Küsschen.