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Wir brauchen eine neue Zeitrechnung!

Bild von Stonehenge

Unsere Zeitrechnung ist Unsinn. Sie beginnt mit dem fehlerhaft überlieferten Geburtstag eines Propheten, der in der Antike in Palästina gelebt hat und zu dem ein großer Teil der Weltbevölkerung keinerlei Bezug hat. Außerdem wird der absolute Großteil der Menschheitsgeschichte mit negativen Jahresangaben belegt und damit aus dem kollektiven Gedächtnis gedrängt. Daher ist es Zeit für eine neue Zeitrechnung! Doch wie könnte die aussehen und hat sie tatsächlich realistische Chancen, sich durchzusetzen?

Fast auf der ganzen Welt folgen wir einem Kalender, der uns sagt, wir würden im Jahr 2021 leben. Ein auf der ganzen Welt geltender Kalender hat unglaublichen Wert und ist in Zeiten der Globalisierung unabdingbar. Doch etwas, was das Leben jedes einzelnen Menschen auf der Welt so dermaßen beeinflusst wie ein Kalender, sollte auch ein Kalender für die ganze Menschheit sein. Zur Geburt Jesu hingegen haben viele Menschen überhaupt keinen Bezug und wissen gar nicht, wieso wir die Jahre eigentlich so zählen wie wir sie zählen.

Probleme der gregorianischen Zeitrechnung

Aber die Probleme gehen noch weiter. Die Jahreszählung nach der Geburt Christi wurde von einem Mönch namens Dionysius Exiguus eingeführt. Er berechnete, dass Jesus von Nazareth 754 Jahre nach der Gründung Roms geboren wurde. Doch im Christentum war ein Geburtstag damals unwichtig, folglich kennen wir sein Geburtsdatum nicht genau und auch über das Jahr können wir nur spekulieren. Dionysius hat sich jedenfalls ordentlich verrechnet, denn mittlerweile geht man davon aus, dass Jesus zwischen 7 v. Chr. und 4 v. Chr. geboren wurde, also früher als gedacht. Wir zählen in Wahrheit gar nicht das zweitausendeinundzwanzigste Jahr seit Jesu Geburt.

Außerdem fehlt ein Jahr null, denn die Geburt von Jesus hat sicherlich kein ganzes Jahr gedauert, sondern war ein Ereignis. Auf das Jahr 1 v. Chr. folgt also direkt das Jahr 1 n. Chr., ein Jahr null gibt es nicht. Das führt zu einer Chronologie-Lücke: Das erste Jahrzehnt begann am 1. Januar 1 n. Chr. und endete folglich zehn Jahre später am 31.Dezember 10 n. Chr. Daher beginnt ein neues Jahrzehnt auch heute immer erst ein Jahr später als viele von uns denken.

Das größte Problem dar aktuellen Zeitrechnung ist jedoch ein anderes. Die menschliche Zivilisation existiert seit etwa 10.000 v. Chr., schon viele tausend Jahre vor Christi Geburt gab es Hochkulturen, die Schriften entwickelten, die Welt und das Weltall erforschten, regen Handel trieben und riesige Städte und Tempelanlagen konstruierten. All diese großartigen Leistungen in Mesopotamien, Indien, China, Griechenland, Ägypten, dem fruchtbaren Halbmond und auch auf der anderen Seite des Atlantiks werden unter den Teppich gekehrt, indem sie mit negativen Jahreszahlen versehen werden.

Zeit für eine neue Zeit?

Deswegen fordern nicht wenige Gelehrte, eine neue Zeitrechnung einzuführen, die sich nicht an einer Religion orientiert. Ein Vorschlag, der immer wieder aufgegriffen wird, ist es, die erste Landung von Menschen auf dem Mond als Beginn der neuen Zeitrechnung einzusetzen. Ein nachvollziehbarer Vorschlag: Die erste Reise der Menschheit zu einem anderen Himmelskörper hat den Maßstab des Möglichen für immer verändert. Die Bilder von im Mondstaub watenden Menschen haben uns den Glauben darin gegeben, dass wir mit Technologie und Wissenschaft alles erreichen können.

Dieser Apollo-Effekt hat womöglich den Weg für die revolutionären Erfindungen der letzten Jahrzehnte geebnet und die Wirkung dieses Ereignisses wird sich wohl erst in vielen Jahrzehnten vollständig erfassen lassen, wenn Menschen dauerhaft auf dem Mond oder dem Mars leben. Und letztlich hat das Apollo-Programm Menschen auf der ganzen Welt begeistert, auch wenn es als nationales US-Programm konzipiert war. Die Mondlandung als Jahr null zu verwenden, hat jedoch auch Nachteile.

Wir würden dann erst im Jahr 51 nach Apollo 11 leben, fast alle historischen Ereignisse hätten also negative Jahreszahlen und die Zahlen hinter dem Minus würden kleiner, je weiter man in der Geschichte voranschreitet – will man das künftigen Schüler*innen und Historiker*innen antun? Nein, wohl eher nicht.

Als Modifikation gäbe es den Homo-Kosmischen Kalender, der vom Moment der Mondlandung 200.000 Jahre zurückzählt. Es gäbe folglich zwei wichtige Fixpunkte: Das Jahr eins, noch mitten in der Steinzeit, und das Jahr 200.000 als Jahr des erstmaligen Betretens eines anderen Himmelskörpers. Wir würden dann im Jahr 200.051 des Homo-Kosmischen Kalenders leben, vermutlich würden wir aber eher die Abkürzung 2’051 schreiben, denn sechsstellige Jahresziffern hätten es im alltäglichen Gebrauch schwer. Deutlich einfacher zu handhaben wäre aber der sogenannte Holozän-Kalender.

Wie funktioniert der Holozän-Kalender?

Die Idee des Holozän-Kalenders geht auf den Geologen Cesare Emiliani zurück. Er beschäftigte sich mit dem Klima der Vergangenheit und dem Zusammenhang zwischen Eiszeiten und der Schwankung der Sonnenaktivität. In seinen späten Jahren entwickelte er dann einen Vorschlag für eine Kalenderreform.

Seine Idee ist es, den Beginndes Holozäns als Ausgangspunkt für die neue Zeitrechnung zu verwenden. Zu dieser Zeit vor etwa 12.000 Jahren veränderte sich die Welt in einem relativ kurzen Zeitraum drastisch. Die Weichsel-Eiszeit, die letzte, die unser Planet bisher erlebte, ging zu Ende und die Gletschermassen zogen sich aus Europa zurück, womit die dem Holozän vorhergehende Periode des Pleistozän endete. Zahlreiche Tiere wie das Wollhaarmammut, der Riesenhirsch und der Höhlenlöwe starben aus – vermutlich auch durch menschlichen Einfluss.

Mit dem Beginn des Holozän und der stufenweisen Erwärmung der Erde blühte die Menschheit auf. Nicht nur, dass unsere Vorfahren damit begannen, andere Arten auszulöschen, sie errichteten zu dieser Zeit auch erstmals größere Gebäude wie Tempelanlagen. Das mag unspektakulär klingen, doch es war der Beginn einer neuen Ära: Die Menschen fingen an, sich ihre eigene Welt aufzubauen. Statt sich ihrer Umwelt anzupassen, passten sie ihre Umwelt sich an. Darin hat sich die Menschheit in den darauffolgenden Jahrtausenden perfektioniert, bis sie schließlich den ganzen Planeten erobert hatte.

Rückblickend können wir diesen Zeitpunkt also als wirklich wegweisenden Moment in der Geschichte betrachten, und zwar für die ganze Menschheit. Die Ära der Menschen hatte begonnen und wir leben heute im Jahr 12.021 ÄM – oder vermutlich eher HE für das englische „Human Era“. Wir müssen also lediglich 10.000 Jahre auf die Geburt Christi addieren.

Gleichzeitig gibt es die Idee, das Holozän abzuschließen und ein neues Erdzeitalter einzuführen, das vom Menschen geprägte Anthropozän. Schon jetzt ist der Mensch schließlich zum bedeutenden geologischen Faktor geworden: Er hat die Atmosphäre und die Temperatur des Planeten radikal verändert, trägt mehr Material ab als Wind und Wasser zusammen, der Meeresspiegelanstieg verändert die Landkarte und die Erderhitzung die Zusammensetzung der Ozeane. Im Zeitraum zwischen 1950 und 2020 verbrauchte die Menschheit mehr Energie als in den gesamten 12.000 Jahren davor, folglich soll der Beginn des neuen Erdzeitalters auf das Jahr 1950 gelegt werden.

Ein neuer Blick auf die Geschichte

Betrachten wie die Geschichte im Holozän-Kalender, dann wirkt sie plötzlich viel beeindruckender: Viele tausende Jahre vergingen zwischen den ersten Siedlungen und der Industrialisierung. Nach dem Beginn der industriellen Revolution hingegen dauerte es keine 200 Jahre mehr bis ein Mensch den Mond betrat. Für die alten Römer*innen lag der Bau der Pyramiden weiter in der Vergangenheit als die alten Römer*innen für uns. Und das Geburtsdatum der ältesten noch lebenden Person Tanaka Kane liegt näher an Napoleons Herrschaft als am heutigen Tag!

Nutzen wir den Holozän-Kalender, dann bekommen alle Ereignisse in der Geschichte der menschlichen Zivilisation eine ganz neue Bedeutung. Die Menschheitsgeschichte begänne mit dem Bau einer Tempelanlage als erstes Gebäude vor über 12.000 Jahren, im Jahr 1 HE. Etwa im Jahr 1.000 HE werden erste Städte gegründet, aber erst 3.000 Jahre später im Jahr 4.000 HE beginnt der Mensch, Kupfer und andere Metalle zu verarbeiten.

Um 5.000 HE wird das Rad erfunden, außerdem verfügen die Menschen über erste rudimentäre Bewässerungstechniken, stellen Metalllegierungen her und einige Stämme mumifizieren ihre Toten – zwei Jahrtausende vor dem Alten Ägypten. Diese und weitere Hochkulturen in Griechenland, Indien, Mesopotamien und China treten erst um 7.000 HE auf den Plan. Zu dieser Zeit entstehen auch viele legendäre Bauwerke: Die ersten Pyramiden, Stonehenge und die minoischen Tempel auf Kreta. Die letzten Mammuts sterben um 8.300 HE aus.

Im Jahre 9.500 HE schließen sich die griechischen Stadtstaaten zusammen um das Perserreich zu schlagen und legen damit die Grundlage für die westliche Kultur. Die Griech*innen entwickeln die Wissenschaft, die Demokratie und lassen den Handel im Mittelmeerraum aufblühen. Makedonien dringt unter Alexander dem Großen bis nach Indien vor. Wenig später wird das chinesische Kaiserreich gegründet.

Etwa in 10.100 HE fällt die Blütezeit des Römischen Reiches, es bedeckt nun einen Großteil Europas, verfügt über eine florierende Wirtschaft, ausgebaute Straßen, der gesellschaftliche und kulturelle Fortschritt beschleunigt sich und eine jahrzehntelange Friedensperiode bricht an. In den nächsten Jahrhunderten sollte der Lebensstandard in Europa nie wieder so hoch sein und bis heute beherrschte nie wieder ein Staat eine so große Fläche in Europa.

Um 10.500 HE verändert sich Europa jedoch zum Schlechteren, das Mittelalter bricht an. Das Römische Reich zerfällt in unzählige Territorien, die von der Obrigkeit mit brutalen Methoden regiert werden, Hexenverfolgungen und Bücherverbrennungen zerstörten einen großen Teil des in der Antike gewonnenen Wissens – vor allem islamische Gelehrte bewahrten das Wissen zu dieser Zeit, Bagdad löst Rom als kulturelles Zentrum der Welt ab.

Das dunkle Mittelalter dauert ein Jahrtausend, erst gegen 11.500 HE führen Ereignisse wie die Landung des Kolumbus, die Reformation und der Aufstieg des Osmanischen Reichs zum Ende des Mittelalters und zum Beginn der Renaissance, einer durch Aufklärung und Rückbesinnung auf die Antike geprägte Epoche.

Um 11.800 HE findet eine der bisher größten Schritte der menschlichen Zivilisation statt. Wir arbeiten nicht mehr vorrangig mit unserer Muskelkraft, sondern machen die in Rohstoffen steckende Energie nutzbar. Die damit verbundene Veränderung ist fundamental: Aus einer Nullsummen- wird eine Positivsummenwelt: Von nun an können wir nicht mehr nur dadurch ein größeres Stück des Kuchens bekommen, indem wir anderen etwas wegnehmen, sondern indem wir auf der ganzen Welt daran arbeiten, dass der Kuchen immer größer wird. Doch nicht alle wollen das: Die Industrielle Revolution facht die Gier der Menschen an, die Systeme errichten, andere auszubeuten.

Im Jahr 19.914 HE stürzt die Menschheit in eine bis dato nie dagewesene Katastrophe. Der erste weltweit mit modernen Waffen geführte Krieg kostet 17 Millionen Menschen ihr Leben und bereitet den Nährboden für den Aufstieg des Faschismus, der in den nachfolgenden Jahrzehnten unglaubliches Leid verursacht. Die durch den Krieg geprägte Ära der Geschichte endet erst mit dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes im Jahr 11.991 HE. Durch die Rivalität des Kalten Krieges betraten Menschen 11.969 HE aber auch zum ersten Mal einen anderen Himmelskörper. Und im Jahre 12.012 der Ära der Menschen gründen sich dann die Wochenendrebellen. Im Jahr 12.015 HE überschreitet die Erderhitzung die 1°C-Marke.

Kann eine neue Zeitrechnung funktionieren?

Die Frage ist natürlich, ob eine solche Kalenderreform, eine neue Zeitrechnung, jemals gelingen kann. Zum letzten Mal glückte ein solches Unterfangen im Jahr 1582, da der von Julius Caesar eingeführte julianische Kalender mangels Schalttagen über lange Zeiträume von den astronomischen Zyklen abwich. Zwischen den ersten Ansätzen und der offiziellen Reform durch Papst Gregor XIII vergingen jedoch Jahrzehnte und es sollte weitere Jahrhunderte dauern, bis alle Länder der Welt sie akzeptierten.

Heute funktioniert das nicht mehr so einfach, denn glücklicherweise ist die Kirche nicht mehr in einer solch mächtigen Position, so etwas einfach diktieren zu können. Es müssten schon die Vereinten Nationen sein, die im Einverständnis ihrer Mitgliedsstaaten diese Reform vollziehen und aktuell können sich die Politiker*innen nicht einmal auf noch wichtigere Dinge wie konsequenten Klimaschutz oder einen humanen Umgang mit Geflüchteten einigen. Insbesondere in den christlich geprägten Ländern ist die Akzeptanz für eine Veränderung des gregorianischen Kalenders vermutlich gering.

Es gibt auch einige wissenschaftliche Kritiken gegen den Holozän-Kalender, so kann man sich die neolithische Revolution nicht wie die industrielle oder die nun laufende digitale Revolution vorstellen, es war keine globale Veränderung über einige Jahre, es war eine Entwicklung, die sich über viele Jahrhunderte überall in ganz unterschiedlicher Geschwindigkeit ereignete und deren Bedeutung uns erst rückblickend klar wird. Es dürfte also nicht exakt das Jahr 0 HE sein, in dem irgendwas Bedeutendes passierte.

In jüngerer Zeit sind schon einige Versuche einer Kalenderreform aufgrund derartiger Vorbehalte fehlgeschlagen, sie wurden in der Bevölkerung schlicht nicht akzeptiert. So erging es etwa dem Französischen Revolutionskalender, der die Trennung von Staat und Kirche vollenden und die sogenannte Herrschaft der Vernunft einleiten sollte – ein reichlich ambitioniertes Ziel.

Allerdings ist der Vergleich zwischen dem Revolutionskalender und dem Holozänischen Kalender nicht ganz stimmig, denn letzterer unterscheidet sich eigentlich nur unwesentlich vom gregorianischen Kalender: Alle Feste und Feiertage bleiben identisch, auch die Wochen- und Monatslängen sind dieselben. Nur die Epoche, also die Jahreszahl verändert sich.

Selbst wenn sich der Kalender vielleicht nicht als weltweit gebräuchlich durchsetzt, könnte er zumindest in der Wissenschaft verwendet werden. Da er weiter zurückgeht als alle anderen geläufigen Kalender, ist er ideal zur Umrechnung geeignet – und alle kulturellen Ereignisse der Geschichte liegen auf einer linearen, positiven Skala.

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