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Dieses elende Jahr 12.022 des Holozän-Kalenders ist bald Geschichte. Und obwohl ich vollstes Verständnis dafür habe, es damit beenden zu wollen, Dinge anzuzünden, möchte ich euch davon überzeugen, auf Böller zu verzichten.
In diesem Jahr wird es kein Böllerverbot geben und der Ansturm auf den Verkauf von Feuerwerkskörpern verheißt nichts Gutes, nicht für die Luft, nicht für die Gewässer, nicht für die Menschen zuhause und am aller wenigsten für die Kliniken. Die Feuerwerksindustrie redet und rechnet die Gefahren klein. Und so sehr die Rechenfehler auch weh tun, so sehr schockiert mich das völlige Ignorieren vulnerabler Menschen mit Atemwegserkrankungen. Zeit für einen wissenschaftlichen Blick auf die Behauptungen der Böllerindustrie!
Der Chemikalien-Cocktail in den Böllern
Eine kleine Auswahl der sympathischen Chemikalien in Silvesterraketen?
Diese Tabelle findet sich auf der Seite der Röder Feuerwerk GmbH. Zunächst einmal schreiben sie dort richtigerweise, dass sich bestimmte gesundheits- und gewässerschädliche Stoffe nicht ersetzen lassen, da bspw. mit einigen (meist radioaktiven) Ausnahmen nur Kupferverbindungen eine blaue Färbung der Böller erzeugen können.
Bei einigen Gefahrenhinweisen wird man aber doch etwas stutzig… Zum Beispiel Bariumcarbonat, eingesetzt für grünliche Färbung der Böller. Und als Rattengift.
Bariumcarbonat entfaltet eine reizende Wirkung auf Schleimhäute, schädigt das Nervensystem, kann zu Muskellähmungen, Blutungen im Verdauungstrakt, Lungen- und Herz-Kreislauf-Störungen führen.
Alle wasserlöslichen Verbindungen des Bariums sind giftig für den Menschen. Sie machen bis zu 40% der entsprechenden Böller aus und könnten bei Einatmen extreme Atembeschwerden verursachen.
Kupfersulfat, das Kupfersalz der Schwefelsäure, in der Tabelle gar nicht angegeben, hat hingegen die sehr unangenehme Eigenschaft, extrem gut löslich in Wasser und gleichzeitig extrem giftig für Wasserorganismen zu sein. Daher wird es als stark gewässergefährdend (höchste Gefahrenstufe) eingestuft. Alternativ können Chlorverbindungen eingesetzt werden, die allerdings schädlich für die Schilddrüse sind und durch die Verbrennung krebserregende Reaktionsprodukte bilden.
Leider auch zu häufig dabei: Chrom, Cadmium, Arsen, Quecksilber und Blei. Solche hochgiftigen Stoffe sollten in zertifizierten Feuerwerkskörpern nicht mehr enthalten sein, doch die Messwerte legen anderes nahe. Das könnte sowohl an Verunreinigungen der Böller als auch an illegalem Feuerwerk liegen.
In einigen Proben wurde auch sogenanntes Hexachlorbenzol nachgewiesen. Diese Verbindung ähnelt Benzol, mit dem Unterschied, dass alle Wasserstoff-Atome durch Chlor-Atome ersetzt wurden, was es gewässergefährdend und gesundheitsschädlich macht. Es gehört zum sogenannten „Dreckigen Dutzend“, einer Gruppe von Stoffen, die eigentlich durch die völkerrechtlich bindende Stockholm-Konvention verboten wurde, nachdem es in den 50ern in der Osttürkei zu einer Katastrophe durch mit Hexachlorbenzol bearbeitetem Getreide kam. Darüber hinaus ist Hexachlorbenzol definitiv bei Tieren und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch bei Menschen krebserregend.
Dennoch sollte fairerweise erwähnt sein: In legalen Feuerwerkskörpern sind diese Stoffe nicht zu finden. Die hochgiftigen Bariumsalze hingegen lassen sich kaum ersetzen.
Die Dosis macht das Gift?
Nun meinen Befürworter*innen des Feuerwerks und auch die Feuerwerksindustrie selbst, auch die gesundheitsschädlichen Substanzen in den Böllern seien in der Praxis kaum ein Grund zur Sorge, schließlich mache die Dosis das Gift.
Letzteres stimmt, die Grundregel der Toxikologie. Also dann, welche Dosen sind denn unbedenklich und welche werden in der Silvesternacht in der Luft gemessen? Die Rechnungen der Feuerwerksindustrie zeigen dabei eine Mischung aus absoluter Inkompetenz und latenter Menschenfeindlichkeit:
Wie richtigerweise angegeben wird, sind die Verbrennungsprodukte des Bariumnitrats schädlich für die menschliche Gesundheit. Dazu zählt in erster Linie das Bariumoxid, BaO.
Zunächst wird die letale Dosis von Bariumoxid für einen Menschen ausgerechnet: Die tödliche Konzentration für Bariumoxid (LD50, im entsprechenden Tierversuch starben also 50% der dieser Konzentration ausgesetzten Ratten), liegt bei 50 mg/kg. Eine Quelle für diese Zahl wird nicht angegeben und im Sicherheitsdatenblatt findet sich ausdrücklich keine Angabe für LD50.
Aber die Größenordnung 50 mg/kg ist für Bariumverbindungen realistisch. Akzeptiert. Hochgerechnet auf einen 75 kg schweren Menschen ergibt das eine letale Dosis von 3,5 Gramm. Und was sind schon Kinder?
Bariumoxid ist Bestandteil des in die Luft geschleuderten Feinstaubs, die Rechnung nimmt einen Anteil von zehn Prozent an. Das ist realistisch, wobei die ebenso giftigen Bariumsalze insgesamt einen Anteil von bis zu 40% ausmachen…
Absolut der Vogel abgeschossen wurde aber im nächsten Schritt, in dem aus der maximal gemessenen Feinstaub-Konzentration die Anzahl der Atemzüge zur Aufnahme der letalen Dosis berechnet wurde. Es ist mir schleierhaft, wie man sich trauen kann, sowas ins Internet zu stellen.
Ich kann es kaum fassen, dass ich das gerade wirklich schreiben muss, aber es wurden Mikrogramm und Milligramm verwechselt. Der Grenzwert für die Feinstaubbelastung wird mit 50 mg/m3 angegeben, tatsächlich sind es 50 µg/m3, also 0,05 mg/m3. Um den Faktor 1.000 verrechnet. Und der maximale Messwert beträgt natürlich 1.000 µg/m3, nicht 1.000 mg/m3 – das wäre schließlich ein ganzes Gramm.
Ich dachte zunächst, dass lediglich das falsche Kürzel verwendet wurde (Mikrogramm und Milligramm fangen schließlich beide mit m an…), aber nein, die Umrechnung ist angegeben mit:
Und dabei springt gleich der nächste Schnitzer ins Auge: 1% entspricht 0,01, nicht 0,001. Aiaiai…
Aber mal ganz jenseits von peinlichen Rechenfehlern, das eigentliche Problem ist doch ein anderes: Die letale Dosis als Indikator für die Schädlichkeit eines Stoffes zu verwenden! Niemand hat jemals behauptet, an Silvester würden tausende Menschen an einer akuten Vergiftung zusammenbrechen, das ist ein absoluter Strohmann. Es geht um die gesundheitsschädlichen Effekte, die Asthmaanfälle begünstigen und chronische Erkrankungen verschlimmern, bzw. wahrscheinlicher machen können. In was für einem Menschenbild ist denn alles unbedenklich, was uns nicht an Ort und Stelle umbringt?
Es gibt sinnvollere Kennzahlen in der Toxikologie, und zwar das Derived No-Effect Level (DNEL). Der DNEL-Wert ist eine Expositionsgrenze, er gibt die Konzentration an, unterhalb derer nach aktuellem Stand der Forschung kein gesundheitliches Risiko für den Menschen besteht. Für Bariumoxid liegt er beim Einatmen, der sinnvollsten Aufnahme im Kontext von Böllern, bei 0,5 mg/m3. Liegt die Konzentration darüber, können gesundheitliche Schäden also nicht ausgeschlossen werden, wobei der genaue Wert je nach Expositionsdauer variiert.
Auch die Angabe von 1.000 µg/m3 als absolute Spitze des Feinstaub-Messwerte ist geschönt, tatsächlich sind in der ersten Stunde des neuen Jahres in Großstädten Konzentrationen bis zu 4.000 µg/m3 möglich. Gehen wir jetzt wieder von einem Anteil von zehn Prozent an Bariumoxid aus, wären das 400 µg/m3 – oder 0,4 mg/m3, nur sehr knapp unter dem DNEL-Wert. Also alles in Ordnung?
Böllerverzicht ist Anti-Ableismus!
Die Toxizität ist eine Stoffeigenschaft, sie kann für jeden Stoff anhand konkreter chemischer Kriterien bestimmt werden und ist universell, so wie Dichte, Schmelztemperatur oder Viskosität. Welchen Schaden eine bestimmte Toxizität aber verursachen kann, also ihre toxische Wirkung, ist aber natürlich auch von der Verfassung des Lebewesens abhängig.
Unsere Modellrechnungen sind insofern von Grund auf voll von latentem Ableismus, dass wir von einem 75 Kilogramm schweren, gesunden Mann ausgehen. Für Menschen mit chronischen Atemwegserkrankungen, etwa Asthma oder COPD, stellen bereits geringere Konzentrationen eine Gefahr dar. Natürlich müssen alle an Silvester sicher und wohlauf sein, deshalb orientiert man sich sinnvoller Weise nicht am gesellschaftlichen Durchschnitt, sondern am Flaschenhals, also an den vulnerabelsten Menschen.
„Typische Symptome nach der Inhalation von Barium sind Asthmaanfälle und eventuell Muskelschwäche.“
Nicola Clausius, Münchner Giftnotruf
Für erkrankte Menschen können eben auch geringere Konzentrationen gefährlich sein, was aber in der Debatte darüber absolut verschwiegen wird.
„Jeder hat schonmal eine Wunderkerze in den Händen gehalten und entzündet, trotz Einstufung als gesundheitsschädlicher (sogar giftig bei Verschlucken!) Stoff hat bisher niemand Beschwerden erlitten, stimmts? Die Dosis an giftigen Stoffen, die unfreiwillig eingeatmet werden, ist schlicht viel zu gering.“
Röder Feuerwerk
Mal abgesehen davon, dass die Dosis wie bereits gezeigt falsch berechnet wurde, stimmt das einfach nicht. An COPD erkrankte Menschen müssen selbstverständlich auch bei Wunderkerzen vorsichtig sein. Die schädlichen Partikel haben einen Durchmesser von nur wenigen Mikrometern, dutzende Male kleiner als die Dicke eines menschlichen Haares. Sie können daher tief in die Lunge eindringen und Entzündungsreaktionen auslösen.
Bei COPD-Patient*innen kann die hohe Schadstoffbelastung an Silvester durch Böller sogar der Trigger für eine sogenannte Exazerbation, einen Verschlechterungsschub, sein, wie der Bundesverband der Pneumologen (BdP) schreibt. Diese plötzliche Verschlechterung des Gesundheitszustands ist ähnlich drastisch wie ein Herzinfarkt, muss in der Regel im Krankenhaus behandelt werden und führt zu einer nicht rückgängig zu machenden, dauerhaften Verschlechterung der Lungenfunktion – wenn die Person sie überhaupt überlebt. In jedem Fall verschlechtert jede Exazerbation die Prognose und erhöht die Wahrscheinlichkeit eines Herzinfarkts.
Die dringliche Empfehlung des BdP an erkrankte Menschen: Das Feuerwerk nur hinter verschlossener Fensterscheibe betrachten und am Neujahrstag erst dann spazieren gehen, wenn sich die Schadstoffkonzentration in der Luft ausreichend verringert hat.
Nun kann man natürlich hilfreiche Tipps geben und sagen, die Menschen sollen einfach im Haus bleiben, sich eine Atemschutzmaske aufsetzen und den Tieren könne man ja Ohrenschützer geben – aber für wen hält man sich bitte, wenn man meint, Menschen für das persönliche Vergnügen am Böllern in der Silvesternacht zuhause einzusperren?
Zeit für ein Böllerverbot
Manchmal müssen wir Freiheiten einschränken, um übergeordnete Freiheiten zu erhalten. Ich bin für die Freiheit aller Menschen, Silvester so verbringen zu können, wie sie es wollen – solange wir dabei niemandem anders schaden. Dazu gehören auch die Mitarbeiter*innen der durch Atemwegserkrankungen (eine nette Formulierung für: „hauptsächlich durch die verdammten ungeimpften Maskenverweiger*innen“) sowieso bereits überlasteten Kliniken, die sich an Silvester zur Abwechslung mal mit einer Reihe viel spektakulärerer Verletzungen beschäftigen dürfen, weil Menschen an ihrem Fetisch gescheitert sind betrunken ein Kilo Schwarzpulver in die Troposphäre zu pusten. Ein Hoch auf die neue Normalität!
Vielleicht sollten wir die Verpackungen einfach mit Schockfotos versehen?
Wer noch mehr Gründe braucht: Es ist Krieg in Europa, Russland überzieht die Ukraine mit Raketen. Die lauten Geräusche von Feuerwerksraketen können retraumatisierend auf Geflüchtete wirken. Und jedes Jahr kommt es zu tödlichen Unfällen in Feuerwerksfabriken, meist in Schwellenländern. Leider auch dieses Jahr: Eine Explosion in einer indischen Fabrik tötete sieben Menschen und verletzte zwölf.
Es ist Zeit für ein unbefristetes gesetzliches Verbot privater Feuerwerkskörper! 60% der Deutschen sprechen sich 2022 klar für Verbotszonen für Böller in Großstädten aus. Ja, Böller bringen uns, zumindest die meisten von uns, nicht direkt um. Bleigießen auch nicht. Asbest auch nicht. Der Verzicht auf gesundheitsschädliche Aktivitäten ist ein zivilisatorischer Fortschritt, durch den wir heute länger und gesünder Leben als in der Vergangenheit. Wann ist das zu etwa Schlechtem, einer „hysterischen“ Schwäche geworden?
Wer das Risiko der Schadstoffbelastung eingehen möchte – ich muss gestehen, es sieht ja tatsächlich ganz hübsch aus – kann bspw. ein öffentliches Feuerwerk betrachten. So verhindert man zumindest sehr wahrscheinlich, durch Böller vermeidbar das Gesundheitssystem zu belasten. Und wenn es unbedingt sein muss: Vorsichtig sein! Auf keinen Fall unter Alkoholeinfluss mit den Böllern hantieren. Finger weg von illegalem oder selbstgebautem Feuerwerk. Das geht besonders an die Männer: Laut Deutscher Krankenhausgesellschaft machen Männer einen Anteil von 80% der stationär behandelten Patient*innen aus.
Zum Schluss noch eine kleine Anregung zum Nachdenken fürs neue Jahr: Wenn man eine Tätigkeit verbietet, um Krankenhäuser zu entlasten, ist deren Sinngehalt vielleicht mal generell zu hinterfragen. Und dass das mit dem Vertreiben böser Geister in den letzten Jahren nicht so wirklich funktioniert hat, sehen wir ja alle.
Ich wünsche euch ein großartiges und sicheres Jahr 12.023 HE!