{"id":2103,"date":"2015-08-01T09:09:54","date_gmt":"2015-08-01T07:09:54","guid":{"rendered":"http:\/\/www.wochenendrebell.de\/?p=2103"},"modified":"2022-12-25T19:43:45","modified_gmt":"2022-12-25T18:43:45","slug":"elternabend-und-autisten-urlaub","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/wochenendrebell.de\/elternabend-und-autisten-urlaub\/autismus-spektrum\/","title":{"rendered":"Elternabend und Autisten-Urlaub"},"content":{"rendered":"

Am ersten Tag nach dem Urlaub gibt es sch\u00f6nere Pflichttermine als einen Elternabend. Einige M\u00fctter und V\u00e4ter werden dies best\u00e4tigen k\u00f6nnen, Noch-Nicht-M\u00fctter und Noch-Nicht-V\u00e4ter k\u00f6nnen beginnen, Angst zu bekommen.\u00a0Wir waren damals gemeinsam auf Jay-Jays ersten Elternabend im Kindergarten. Wir wollten gemeinsam auftreten, wenn es vielleicht zu Nachfragen bez\u00fcglich des Sohnes kommt.<\/p>\n

Man kann sich ja nicht vorstellen, was f\u00fcr hirnrissige Fragen man gestellt bekommt, wenn bekannt wird, dass man ein Kind mit Asperger-Syndrom hat.<\/p>\n

\u201eUi, der f\u00fchlt nix, ne?\u201c ist da eigentlich so mein Lieblingsklassiker. Stupide und monoton spulen wir unsere freundlich formulierte Antwort runter, w\u00e4hrend im Hinterkopf die eigentlich notwendige Antwort leise mitgemurmelt wird:<\/p>\n

\u201eJa, das ist sehr praktisch. Sie k\u00f6nnen ihn hassen, ihn beschimpfen, missachten und dem\u00fctigen. Er sp\u00fcrt nichts.\u201c<\/p>\n

Es gab keine Nachfragen bei Jay-Jays ersten Elternabend. Es lief strikt organisiert ab, damals als wir noch in der N\u00e4he von M\u00fcnchen lebten. Es gab eine minuti\u00f6s geplante Tagesordnung mit einleitenden Worten der Kindergartenleitung, die unter anderem das Leitbild veranschaulichte (10 Minuten), der Elternbeirat wurde gew\u00e4hlt (10 Minuten), der F\u00f6rderverein kam zu Wort (5 Minuten), die Gruppenleiterin sprach zu den Eltern und stellte sich vor (5 Minuten), die feststehenden Termine von Ausfl\u00fcgen und Br\u00fcckentagen wurde bekannt gegeben (5 Minuten), die Telefonliste der Eltern wurde erstellt und von der Kindergartenleitung final m\u00fcndlich einer Endkontrolle unterzogen (10 Minuten). Es endete im Punkt Sonstiges, bei dem Eltern wichtige Fragen stellen konnten wie:<\/p>\n

\u201eWo kann ich anmelden, wenn ich meinem Kind ein Knoppers mit in den Kindergarten bringen darf?\u201c\u00a0(Antwort: Wir w\u00fcnschen keinen Schnuckekram als Pausenmitgabe.)<\/em><\/p>\n

\u201eMaximilian pflegt gegen 10:30 Uhr ein zweites Fr\u00fchst\u00fcck einzunehmen. K\u00f6nnen Sie dies sicherstellen?\u00a0(Antwort: Fr\u00fchst\u00fcck findet bei uns um 09:00 Uhr statt.)<\/em><\/p>\n

„Ich w\u00fcrde gerne von Ihnen angerufen werden, wenn meine Tochter den Toilettengang vollzogen hat. Wir f\u00fchren Buch. Wir haben jeden Toilettengang seit der Geburt aufgef\u00fchrt. Und nicht nur echte Toiletteng\u00e4nge. Schauen Sie mal hier,\u00a0( Holt ein gro\u00dfes Buch heraus).\u00a0<\/em>So richtig von Geburt an. Verstehen Sie?\u00a0(Erste verwirrte Mienen in der Runde)<\/em><\/p>\n

Hier ist zus\u00e4tzlich die Uhrzeit angegeben, wenn wir ihr die Windel gewechselt haben. Uns ist das sehr wichtig, weil wir glauben so mehr \u00fcber unsere Tochter erfahren zu k\u00f6nnen. Schauen Sie, hier haben wir im Urlaub sogar zus\u00e4tzlich die mitteleurop\u00e4ische Zeit angegeben, (Verzweiflung macht sich in der Runde breit)“<\/em><\/p>\n

Ich verk\u00fcrze hier mal stark<\/em><\/p>\n

„Glauben Sie, Sie k\u00f6nnten uns die Toilettengang-Zeiten jeweils nach Kindergartenschluss zumailen. Manchmal holt Opa ja die Kleine vom Kindergarten ab und der kann sich so schlecht Zahlen und Uhrzeiten merken. Und es w\u00e4re ja bl\u00f6d, wenn ich sie dann immer abends anrufen m\u00fcsste um die Uhrzeiten des Toilettengangs meiner Tochter zu erfahren, denn…..<\/p>\n

„STOP! Ihre Tochter sollte sehr schnell, deutlich schneller als alle anderen, schreiben lernen.Den Rest besprechen wir gerne unter vier Augen“<\/p>\n

Dies nahm ca. weitere f\u00fcnf Minuten in Anspruch. Nach f\u00fcnfzig Minuten, zuk\u00fcnftig \u00fcbrigens sp\u00e4testens nach einer Stunde, nahm der Elternabend aber immer sein friedliches Ende.<\/p>\n

Wir waren aber durch die Vielzahl an erlebten Elternabenden sicherlich dem\u00fctig genug zu wissen, dass dies nicht immer durchweg pr\u00e4zise vorbereitete Veranstaltungen sind und durchaus mal die ein oder andere Minute der Mangelorganisation oder der Plauderlaune einer Erzieherin zum Opfer fallen kann.<\/p>\n

Trotzdem wussten wir, dass es selbst bei einer geringern Anzahl an \u00fcbermittelter Informationen einfach eine Sache der F\u00fcrsorgepflicht unserer Tochter gegen\u00fcber ist, an so einem Eltern teilzunehmen. Das macht man einfach so. Das ist auch eine Frage des Anstands.<\/p>\n

Meine Frau versuchte mich kurz zu \u00fcberreden, dass ich an ihrer Stelle an dem Elternabend teilnahm, was mangels zu geringer Pentetranz der \u00dcberredungsversuche schnell scheiterte. Sie war einfach nicht hartn\u00e4ckig genug. Aber nach einer halben Stunde Rumbetteln gebe ich eben auch einfach nicht auf.\u00a0Sie verschwand gegen 19:55 Uhr.\u00a0Zum Kindergarten sind es von uns entfernt circa zwei Minuten. Sie kehrte gegen 22:00 Uhr zur\u00fcck.<\/p>\n

Die Kinder lagen bereits im Bett, ich sa\u00df am Rechner und konnte sie beobachten, wie sie das Wohnzimmer betrat. Sie schien ein wenig anges\u00e4uert. Sie war vom Urlaub wahnsinnig gut erholt und ich wusste, dass ein l\u00e4ppischer Elternabend ihr nicht die Laune vermiesen kann. Sie lie\u00df sich auch nichts anmerken, aber nachdem wir nun \u00fcber f\u00fcnfzehn Jahre zusammen sind und jegliche Achterbahnhochs und -tiefs genommen haben, sieht man anhand von Kleinigkeiten, wie es um den Partner bestellt ist. Sie trat in die K\u00fcche und sagte nichts. Normalerweise k\u00e4me jetzt in ihrer Verfassung die Stelle, wo sie mir vorwerfen w\u00fcrde, dass die Sp\u00fclmaschine noch nicht leer ger\u00e4umt ist, oder der Wohnzimmertisch nicht abgewischt ist, oder die Spielsachen der Kids im Wohnzimmer noch nicht wegger\u00e4umt sind. Ich bin, was das angeht, eigentlich ein verl\u00e4sslicher Versager, aber dieses Mal hatte ich tats\u00e4chlich alles fein s\u00e4uberlich erledigt.<\/p>\n

Ich liebe diese Momente, denn dann platzt es aus meiner Frau immer nur einfach so raus, und sie sagt, was sie wirklich nervt. Wir lachen dann sehr viel, und egal, wie gro\u00df das Problem dann auch ist, es ist weg oder so klein, dass es keiner besonders gro\u00dfen Aufmerksamkeit mehr bedarf. Vermutlich ist das der Grund, warum wir heute immer noch zusammen sind.<\/p>\n

Sie berichtete mir anschaulich vom Elternabend und erfreute sich, wie viele Elternteile es doch gibt, die genaustens wissen wie man sich auf Elternabenden zu verhalten hat. Die goldene Regel besagt:\u00a0\u201eHalte die Schnauze, so lange es nur m\u00f6glich ist\u201c<\/p>\n

Diese Regel ist wichtig. Die Noch-Nicht-M\u00fctter und Schneller-als-sie-denken-V\u00e4ter sollten das wissen.<\/p>\n

Es gab keine Tagesordnung. Es war n\u00e4mlich ein thematischer Elternabend. Das ist p\u00e4dagogisch betrachtet entweder der ganz heisse Schei\u00df oder es sind halt Elternabende, wie sie auf einem kleinen 800-Seelen-Dorf nunmal so durchgef\u00fchrt werden, weil Turnvater Jahn h\u00f6chstpers\u00f6nlich 1848 die Konzeption dieses Elternabends veranlasst hat. Ja, es ging sehr aktiv zu, denn zun\u00e4chst einmal wurden gemeinsam Sonnen gebastelt und ausgeschnitten (10 Minuten), dann wurden die vierundzwanzig Zacken der Sonne mit Stichworten zum Thema: \u201eWas bedeutet Freundschaft?\u201c gef\u00fcllt (20 Minuten), die Inhalte der Zacken sollten dann verlesen werden, was zu der kurzen Diskussion f\u00fchrte, ob jeder seine eigenen Zackeninhalte vorlesen soll oder ob dies eventuell \u201eanonym\u201c geschieht. Man wolle die Sonnen dann vorher durchmischen (15 Minuten).<\/p>\n

Meine Frau geriet auch nur kurz in Panik, denn da nur sieben Elternteile anwesend waren und mindestens drei Elternteile voneinander abgeschrieben haben, war es ein Leichtes, jedem Teilnehmer seine Zacken zuzuordnen.<\/p>\n

Meiner Frau gelang es, immerhin f\u00fcnf der vierundzwanzig Zacken mit Stichworten, wie Vertrauen, Spa\u00df, Gemeinsamkeiten und F\u00fcrsorge zu f\u00fcllen. Die Strebermama, nennen wir Sie Frau Stubenk\u00f6ter, f\u00fcllte alle vierundzwanzig Zacken und schrieb acht weitere Begriffe in die Mitte der Sonne. Die Verlesungen liefen unproblematisch und nur durch den Vortrag von Frau Stubenk\u00f6ters Ausf\u00fchrungen kam es zu Verz\u00f6gerungen (20 Minuten) .<\/p>\n

Die Erzieherin las einen Text vor (Quelle lautete: Ich habe da mal was aus diesem Internet ausgedruckt), in dem es aus philosophischer Sicht um das Thema Freundschaft ging (15 Minuten), um mit der Frage abzuschlie\u00dfen, ob jemand eine Geschichte<\/a> \u00fcber seine beste Freundin oder seinen besten Freund erz\u00e4hlen kann. Der Herr zur Linken meiner Frau, schaute angespannt zu Boden. Auch ihm war klar, dass er jetzt die Klappe halten muss um diese Veranstaltung nicht zeitlich unn\u00f6tig auszudehnen. Der Typ neben ihm schaute entspannt, innerlich war er jedoch aufgew\u00fchlt. Er w\u00fcrde nat\u00fcrlich auch die Fresse halten, aber er war sich nicht sicher, ob alle dicht halten werden. Frau P., sie sa\u00df meiner Frau schr\u00e4g gegen\u00fcber, und ihr Ausdruck zeigte, dass sie sich l\u00e4ngst ihrem Schicksal gef\u00fcgt hatte. Sie hat eine weitere \u00e4ltere Tochter im Alter von Frau Stubenk\u00f6ters Sohn. Sie wusste, was nun kommen w\u00fcrde.<\/p>\n

Frau Stubenk\u00f6ter meldete sich (so richtig mit dem Arm.Wie in der Schule) und kam zu Wort.<\/p>\n

Frau Stubenk\u00f6ters Geschichte begann beim Kennenlernen ihrer Freundin, \u00a0ging weiter \u00fcber die Zeit, als sie fr\u00fcher mit den nackten F\u00fc\u00dfen \u201ekleine L\u00f6chlein\u201c in den Sand gesto\u00dfen und dann Murmeln gespielt hatten. Und dass ihre Eltern nicht wollten, dass dies ihre beste Freundin ist, und wie sehr sie f\u00fcr die Freundschaft gek\u00e4mpft hatte. Die Geschichte begann chronologisch bei den Murmeln und endete damit, dass ihre Eltern im Nachhinein nat\u00fcrlich Recht hatten. Ihre Freundin sei dann sp\u00e4ter auf die schiefe Bahn geraten. Schlimme Geschichte. Vermutlich. \u201eWas ist sie denn heute\u201c, \u00a0fragte ich meine Frau. \u201eEine betr\u00fcgende Crackhure?\u201c Meine Frau hatte \u00a0keine Ahnung. Sie hat nicht nachgefragt. Also, w\u00e4re ich auf diesem Elternabend gewesen, w\u00e4re diese Frage nicht ungekl\u00e4rt geblieben \u2013 was vielleicht auch erkl\u00e4rt, dass meistens meine Frau diese Veranstaltungen besucht. Die Murmel-Crackhuren-Story. (20 Minuten).<\/p>\n

Frau Stubenk\u00f6ter verabschiedete sich nach der Geschichte. Ihr Mann m\u00fcsse gleich zur Nachtschicht und Sie k\u00f6nne leider nicht l\u00e4nger bleiben. Niemand reagierte. Jeder war noch viel zu fassungslos von der unfassbar langweiligen und zeitraubenden Geschichte von Frau Stubenk\u00f6ter. Sie sagte dies zudem sehr aufrichtig. Es fehlten nur noch Tr\u00e4nen. Frau Stubenk\u00f6ter war Elternabendprofi.\u00a0Situation analysieren, Commitment abliefern, Interesse zeigen, abhauen. Meine Frau war schwer beeindruckt und vertieft in die \u00dcberlegungen, welche Ausrede sie nun verwenden k\u00f6nnte.<\/p>\n

Ein gemeinsames Lied sollte den Themenabend ausklingen lassen. Es wurde von CD abgespielt. W\u00e4hrend sie so \u00fcber ihre Strategie sinnierte, stupst Frau L., die einen Sohn im Alter unseres Sohnes hat, sie an. Es ging in dem Lied ums Freunde sein und Frau L. beichtete meiner Frau, dass sie viel geweint hat, als sie das erste Mal das Lied geh\u00f6rt hat, weil es einen so derma\u00dfen tief ber\u00fchrt. Ein kurzes Nicken meiner Frau musste reichen, die hatte es schlie\u00dflich gar nicht wirklich wahr genommen und mitgeh\u00f6rt. Dem sollte final abgeholfen werden, indem dann gemeinsam ein Rolf Zuckowski Song\u00a0 angestimmt wurde:<\/p>\n

Meine Frau, immer noch tief beeindruckt von Frau Stubenk\u00f6ters professionellem Abgang, lie\u00df auch dies \u00fcber sich ergehen (insgesamt 15 Minuten).<\/p>\n

Es wurde pr\u00e4sentiert, was die Kinder auf die gestellte Frage geantwortet hatten. Die wurden n\u00e4mlich morgens ebenfalls befragt, was Freundschaft f\u00fcr sie bedeutete. (zwanzig Mal genannt: jemand zum spielen, ein Mal: jemand zum Kuscheln) (10 Minuten).<\/p>\n

Der Elternabend endete, indem die Sonnenblumen an eine W\u00e4scheleine getackert wurden (5 Minuten).<\/p>\n

Die Gruppenleiterin sprach die abschlie\u00dfenden Worte:<\/p>\n

\u201eLeider waren heute nicht alle Elternteile anwesend, man h\u00e4tte sich intensiver austauschen k\u00f6nnen und der sch\u00f6ne Abend h\u00e4tte nicht so fr\u00fch enden m\u00fcssen. Kommen Sie alle gut nach Hause.\u201c<\/p>\n

Es war sch\u00f6n, meine Frau zu beobachten, wie sehr sie lachen musste, als sie dies alles erz\u00e4hlte. Wir haben wieder Kraft. Kraft, all den Unsinn des Alltags zu ertragen. Apropos ertragen. Ich wollte auch dem Sohn noch ein paar Zeilen widmen. Schlie\u00dflich soll er auch irgendwann den Nutzen von diesem Geschreibsel haben. Es werden sicher nicht diese Zeilen \u00fcber den Elternabend sein, die ihn von dem Wunsch, Papa zu werden, abhalten.Auch wenn es zur Schulzeit dann inhaltlich auf den Elternabenden eher abstruser wurde.<\/p>\n

Kommen wir zum eigentlichen Thema. Autisten-Urlaub. Das klingt genau so spektakul\u00e4r, wie es ist. Ich versuche mich ja gerne an absoluten \u201eAutismus-Experten\u201c zu orientieren. Helene Hegemann zum Beispiel, die neulich in einer FAZ-Schmiererei einen Text erbrochen hat, der unter dem Subtitel \u201eHochstapler und Autisten\u201c (ja, da h\u00e4tte man es bereits ahnen m\u00fcssen) unter anderem folgendes zu berichten wusste:<\/p>\n

\u201eBei dieser neuen, glorifizierten Form von Autismus handelt es sich nicht um unberechenbare Asperger-Kids, die schon im Vorschulalter masturbierend am Kronleuchter h\u00e4ngen. Es geht um zur\u00fcckhaltende Au\u00dfenseiter, die nicht l\u00fcgen k\u00f6nnen und ihre F\u00e4higkeiten wegen irgendeines irrationalen Pflichtbewusstseins in den Dienst der Allgemeinheit stellen. Sie sind hochbegabt, sich selbst egal und deshalb unsere letzte Rettung.\u201c<\/em><\/p>\n

Ich mag nicht auf den Originaltext verlinken, aber hier ist der gesamte Text<\/a> ziemlich gut und bez\u00fcglich der Kritikpunkte treffend analysiert und kommentiert.<\/p>\n

Also, Jay-Jay. Ich berichte mal vom Urlaub mit Dir. Frau Hegemann braucht Futter. Wir waren in der Karibik, was die Anreise etwas beschwerlich und langatmig machte, aber das Wetter und die Atmosph\u00e4re dann umso schneller Erholung erlaubte. Wir haben eine Menge gesehen in der Zeit. Da waren die Kanadier, die morgens um sechs an der Strandbar standen und 0,2l-T\u00f6pfchen braunen Rum um die Wette exten. Man traf sie dort, wenn sie dieses Spiel beganne,n gegen sechs Uhr morgens, es gab aber auch Tage, an denen sie dieses Spiel um diese Uhrzeit spielten, um den Tag rund abzuschlie\u00dfen. Es gab dann auch diese nette Dame um die f\u00fcnfzig, mit den Glitzerklunkern an der Hand, die den Urlaub mit dem zwanzigj\u00e4hrigen Einheimischen mit dem gest\u00e4hlten Body verbrachte. Wir diskutierten dar\u00fcber, was Liebe ist, und wie sie entsteht. Wir sahen auch die beiden Mamis, die ihre ca. acht Jahre alten Kids den ganzen Tag am Pool weitgehend unbeaufsichtigt lie\u00dfen, damit sie sich einen hinter die Birne gie\u00dfen k\u00f6nnen. Wir beobachteten auch die Paare aller Altersgruppen, die sich am Buffet \u00fcber zehn Minuten alle Garnelen aus der Paella pulten und bewunderten die interessanten Bauwerke, die manch Hotelgast aus Salatgurke, ged\u00fcnstetem Fisch, Bananenmus, K\u00e4se, Pommes, Reis, Br\u00f6tchen und gebratenen W\u00fcrstchen auf seinem Teller baute, und staunten \u00fcber die hohen Tomatenscheiben-Mauern, die manches Kunstwerk s\u00e4umte. Wir kicherten \u00fcber die Vorstellung, wie es eskalieren w\u00fcrde, wenn sich jeder am Buffet nur einen Teller voll nehmen d\u00fcrfte. Wir sahen aus n\u00e4chster N\u00e4he, wie tiefenentspannt der Vater geblieben ist, als seine kleine Tochter aus dem Meer gestapft kam, den kleinen Slip leicht beiseite zog und einfach mitten an den voll besuchten Strand strullerte.<\/p>\n

Wir sahen den ziemlich wohlbeleibten Typen um die sechzig, der seine Frau, die auch seine Enkelin h\u00e4tte sein k\u00f6nnte, in der Lobby vor dem Abendessen pr\u00e4sentierte. Er in Schlappen, T-Shirt, unfreiwillig bauchfrei. Sie Abendkleid, 25-cm-Stilettos in Lackrot. H\u00e4tte sie sich darin nicht bewegt wie ein Wisent beim Eiskunstlauf, h\u00e4tte es vielleicht sogar chic aussehen k\u00f6nnen. Das schreibe ich aber nur so, weil ich nicht wei\u00df ob \u201enuttig\u201c eine politisch korrekte Beschreibung w\u00e4re.<\/p>\n

Wir haben auch kalkwei\u00dfe, sp\u00e4ter hummer\u00e4hnlich gef\u00e4rbte Menschen gesehen, die sich bei feinster Karibiksonne, uneingecremt und v\u00f6llig schattenfrei zur gepflegten Rumvernichtung trafen. Wir sahen, zugegebenerma\u00dfen noch recht kleine Menschen, deren Exkremente auf dem Weg zur Toilette aus der Hose purzelten. Wir sahen viele Menschen, die der Meinung waren, der Hotelpreis beinhalte die Einverleibung s\u00e4mtlicher Grundrechte des Hotelpersonals. Und dann nat\u00fcrlich das Paar, welches wir morgens im Sonnenaufgang gesehen haben; nun ja, die haben nicht Paar-Pilates betrieben. Aber das denkst Du Dir mittlerweile sicher selbst.<\/p>\n

Wir haben Menschen gesehen, die sich \u00fcber ein im Pool tobendes Kind beschwerten (es spritzte einmal Wasser<\/a> in ihre Richtung) und es gab Menschen, die begeistert von einer Hotelkonzeption erz\u00e4hlten, in der Kinder keinen Zutritt haben. Reine Erwachsenenhotels. Wir fragten uns, ob da dann auch so ein kleines neckisches Baby-Icon an der T\u00fcr klebt: \u201eWir m\u00fcssen draussen bleiben\u201c.<\/p>\n

Wir haben Menschen gesehen, die dem Essen dort gegen\u00fcber eine Wertsch\u00e4tzung abgelegt haben, dass man sich fragt, warum sie sich nicht gleich einen Stuhl ans Buffet stellen, und nacheinander in die Rechauds reiern.<\/p>\n

Wir haben eine Menge Menschen gesehen, denen ich zutrauen w\u00fcrde, dass sie gelegentlich mal onanierend am Kronleuchter h\u00e4ngen, und das meine ich eigentlich sogar noch v\u00f6llig wertfrei, aber wir wollten ja \u00fcber Dich sprechen. Du hast ein Problem mit dem Rumtoben, hast Du gesagt. Du w\u00fcrdest mehr entspannen wollen. Das Thema wird gro\u00df. Das sp\u00fcren wir. Aber hier im Urlaub konntest Du Dich das ein oder andere Mal \u00fcberwinden. Du warst \u00a0ein stinknormaler, langweiliger Urlaubsgast. Du hast viel Spa\u00df gehabt, bist geschwommen, mit Haien geschnorchelt, bist Katamaran gefahren, hast gekickert, Billard gespielt, Tauchwettbewerbe gemacht und Entdeckungstouren durchs Hotelareal durchgef\u00fchrt. Du hast Dich in Wellen gest\u00fcrzt, deren Gr\u00f6\u00dfe Omas Respekt zu gro\u00df werden lie\u00df, und Du hast genossen, wenn es sch\u00f6ne und sehenswerte Dinge und Momente gab.\u00a0Du bist mit der Hotel-Lok von Ort zu Ort gefahren und hast die Mangroven studiert, Du hast die Schildkr\u00f6ten beobachtet und die Tierfotos verachtet, die die Animateure mit unterschiedlichstem Getier gemeinsam mit den Hotelg\u00e4sten durchf\u00fchrten. Du hast gut und ungew\u00f6hnlich bunt gegessen, und Papsi musste fast nie als M\u00fcllschlucker<\/a> agieren. Du warst lieb zu Deiner Schwester und respektvoll zu Deiner Mama. Du bist brav zu Bett gegangen und hast Anweisungen meisten respektiert. Du hast mir tolle Geschichten erz\u00e4hlt und sehr kluge Fragen gestellt und warst nicht b\u00f6se, dass ich Dir den Groundhopping<\/a>-L\u00e4nderpunkt versaut habe, weil ich die Ansto\u00dfzeit falsch recherchierte. Und Du hast mit mir viele v\u00f6llig durchgeknallte Menschen beobachtet und mir berichtet, was Du an ihnen seltsam fandest. Wir waren eigentlich immer einer Meinung. Wir waren die Normalen. Papsi und Mami waren so unterfordert von Dir, dass wir selbst viel zu schnell viel zu entspannt und erholt waren. Das war sehr ungewohnt. Ich muss Frau Hegemann und Konsorten wohl entt\u00e4uschen. Es war ein wundersch\u00f6ner Urlaub, wie man ihn mit seinen Kindern nun einmal \u00fcblicherweise verbringt.<\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Am ersten Tag nach dem Urlaub gibt es sch\u00f6nere Pflichttermine als einen Elternabend. Einige M\u00fctter und V\u00e4ter werden dies best\u00e4tigen k\u00f6nnen, Noch-Nicht-M\u00fctter und Noch-Nicht-V\u00e4ter k\u00f6nnen beginnen, Angst zu bekommen.\u00a0Wir waren damals gemeinsam auf Jay-Jays ersten Elternabend im Kindergarten. Wir wollten gemeinsam auftreten, wenn es vielleicht zu Nachfragen bez\u00fcglich des Sohnes kommt. Man kann sich ja nicht vorstellen, was f\u00fcr hirnrissige Fragen man gestellt bekommt, wenn bekannt wird, dass man ein Kind mit Asperger-Syndrom hat. \u201eUi, der f\u00fchlt nix, ne?\u201c ist da eigentlich so mein Lieblingsklassiker. Stupide und monoton spulen wir unsere freundlich formulierte Antwort runter, w\u00e4hrend im Hinterkopf die eigentlich notwendige Antwort leise mitgemurmelt wird: \u201eJa, das ist sehr praktisch. Sie k\u00f6nnen ihn hassen, ihn beschimpfen, missachten und dem\u00fctigen. Er sp\u00fcrt nichts.\u201c Es gab keine Nachfragen bei Jay-Jays ersten Elternabend. Es lief strikt organisiert ab, damals als wir noch in der N\u00e4he von M\u00fcnchen lebten. Es gab eine minuti\u00f6s geplante Tagesordnung mit einleitenden Worten der Kindergartenleitung, die unter anderem das Leitbild veranschaulichte (10 Minuten), der Elternbeirat wurde gew\u00e4hlt (10 Minuten), der F\u00f6rderverein kam zu Wort (5 Minuten), die Gruppenleiterin sprach zu den Eltern und stellte sich vor (5 Minuten), die feststehenden Termine von Ausfl\u00fcgen und Br\u00fcckentagen wurde bekannt gegeben (5 …<\/p>\n","protected":false},"author":221,"featured_media":0,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":{"footnotes":""},"categories":[2663],"tags":[],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/2103"}],"collection":[{"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/users\/221"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=2103"}],"version-history":[{"count":0,"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/2103\/revisions"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=2103"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=2103"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=2103"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}