{"id":2131,"date":"2015-05-12T08:30:22","date_gmt":"2015-05-12T06:30:22","guid":{"rendered":"http:\/\/www.wochenendrebell.de\/?p=2131"},"modified":"2020-12-05T18:00:48","modified_gmt":"2020-12-05T17:00:48","slug":"wochenendrebellin","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wochenendrebellin\/suche-lieblingsfussballverein\/","title":{"rendered":"Wochenendrebellin"},"content":{"rendered":"\n

FSV Frankfurt-VfR Aalen, 26.04.2015<\/h2>\n\n\n

Es war das Wochenende, an dem wir dem HSV die vorletzte Ehre erweisen wollten. Zweitliga-Tristesse, ein Niveaulimbo der technischen Unzul\u00e4nglichkeiten, gepaart mit einem Vakuum an Kreativit\u00e4t im Mittelfeld und einer Stadionstimmung, wie ich sie auf unseren Touren nie zuvor bei sicheren Kandidaten f\u00fcr einen klaren Abstiegsplatz in unserem kleinen, internen Ranking gesehen habe. Der Sohn und ich bewerten Ausfl\u00fcge unter Ber\u00fccksichtigung aller dreihundertsechsundzwanzig Faktoren mit Noten, und alleine die Paarung deutete an, dass es f\u00fcrchterlich werden w\u00fcrde.<\/p>\n

Wir waren beim FSV Frankfurt, der im Zweitliga-\u201eEl Gigantico\u201c auf den VfR Aalen traf. Und niemals zuvor \u2013 und vielleicht werde ich es auch in Zukunft nie wieder \u2013 bin ich mit so einer enorm positiven Grundstimmung zu diesem Spiel gefahren.<\/p>\n

Oftmals besch\u00e4ftigen mich Dinge, bevor wir abreisen. Jason war ein wenig krank und du ahnst, dass ihn eine Tour\u00a0 gesundheitlich \u00fcberfordern k\u00f6nnte. Oder du wei\u00dft, dass er die letzten Tage so schlecht geschlafen hat und deshalb schneller, intensiver und dann nat\u00fcrlich auch publikumsreicher v\u00f6llig eskalieren wird. Dieses Mal war alles komplett frei von Sorgen und sogar mehr.<\/p>\n

Wen die Einleitung perplex zur\u00fcck l\u00e4sst, dem sei gesagt, dass wir am Tag zuvor im Volksparkstadion in Hamburg<\/a> waren und uns den HSV gegen den FC Augsburg angeschaut hatten. Ich werde \u00fcber das HSV-Spiel noch separat berichten, aber ich m\u00f6chte diesen Blogpost gerne mit den frischen Eindr\u00fccken rund um das Spiel am Sonntag in Frankfurt f\u00fcllen.<\/p>\n

Die ersten beiden freien Tage waren erst 21 Tage nach dem Ende des Urlaubs m\u00f6glich und waren klar verplant. Ich schnappe mir einen Tag den Sohn f\u00fcr eine unserer Touren und den anderen Tag verbringe ich den ganzen Tag mit meiner Tochter, die w\u00e4hlen darf, was sie gerne tun m\u00f6chte und offiziell auch entscheiden darf, ob ihr Bruder Jason dabei sein darf. Dies tun wir allerdings in weiser Voraussicht, dass sie jedes Mal ihren Bruder dabei haben will. Immer. Sie liebt ihn abg\u00f6ttisch.<\/p>\n

Nicht ungew\u00f6hnlich zwischen Bruder und Schwester, aber hier darf man vielleicht nicht au\u00dfer Acht lassen, wie widerlich Jason manchmal mit seiner Schwester umgeht. Sie ist Opfer seiner Eifersucht, seines Neids aber auch seiner v\u00f6llig verquert-unvorsichtigen Art im Umgang mit Gefahren. Er erkennt sie nicht oder ihm ist die Konsequenz nicht bewusst. F\u00fcr irgendeinen Text schilderte ich, glaube ich, einmal, wie sicher sich Jason ist, dass er aus dem f\u00fcnften Stock springen k\u00f6nne, es w\u00fcrde dann lediglich der Boden zerst\u00f6rt sein, auf dem er aufschl\u00e4gt. Er ist n\u00e4mlich nicht nur einfach der St\u00e4rkste, Kl\u00fcgste, Schnellste und Beste der Welt. Er ist absolut unbesiegbar. Auch nicht von fahrenden Autos, in die er hineinl\u00e4uft. So erkl\u00e4rt er es einem zumindest dann immer in Seelenruhe, wenn er sich trotz Verbots in mehrfach besprochene Gefahrensituationen begibt. Er schnitt schon eingesteckte Stromkabel mit der Heckenschere durch und rannte \u00fcber stark befahrene Stra\u00dfen, ohne nach links und rechts zu schauen und das, obwohl er innerhalb von 24 Stunden nie allein ist.<\/p>\n

Seine Schwester leidet oft unter ihm und umso mehr sch\u00e4tze ich ihre immer wiederkehrenden Versuche, an ihren Bruder ranzukommen. Liegen beide abends bei uns im Bett (ja, unsere Schlafsituation ist auch seit vier Jahren diskussionsw\u00fcrdig), versucht sie, sich immer wieder mal an ihn ranzukuscheln, wird aber jedes Mal sehr barsch abgewiesen. Sie versucht es einfach am n\u00e4chsten Tag wieder. Und wieder und wieder und wieder. Sie versteht ihn manchmal nicht, aber sie gibt ihn auch nicht auf.<\/p>\n

Ich sprach mit Jason, welches Spiel er sich f\u00fcrs Wochenende ausgesucht hat. \u00dcber das Ausschlussverfahren, welche Stadien uns noch fehlen und \u00fcber die sehr schnelle M\u00f6glichkeit, so kurzfristig an Tickets zu kommen, entschied er sich f\u00fcr den HSV. Damit war der Samstag verplant und ich fragte meine vierj\u00e4hrige Tochter, was sie dann am Sonntag unternehmen m\u00f6chte. Ich hatte ihr Spielplatz, Therme oder Kino angeboten. Alles Dinge, f\u00fcr die man sie begeistern kann.<\/p>\n

\u201eIch will ins Stadion.\u201c<\/p>\n

Ich l\u00e4chelte. Ich l\u00e4chelte auch, weil es so ein unfassbar sch\u00f6nes Gef\u00fchl war, dass meine Tochter die vielen sch\u00f6nen Momente mit meinem Sohn mittlerweile \u00fcber Fotos und Jason Erz\u00e4hlungen \u201emiterlebt\u201c hat und nun auch live dabei sein will. Ich malte mir aus, wie wichtig dies auch f\u00fcr die nicht intensiv genug ausgepr\u00e4gte Beziehung zu meiner Tochter ist. Es war nach vielen Abneigung zeigenden Gesten in der Vergangenheit ein Schritt nach vorne. Und sie ist diesen Schritt auf mich zugegangen. Ich blickte Jay-Jay an, der sich ebenfalls zu freuen schien. Er strahlte f\u00f6rmlich. Er freute sich \u00fcber etwas, das seine Schwester freut. Das kommt nicht oft vor. Freude \u00fcberall.<\/p>\n

Es war mein herzallerliebster Sohn, der mich aus diesem Traum riss. Nat\u00fcrlich wollte meine Tochter nicht mit mir ins Stadion. Nat\u00fcrlich grinste er nicht so gl\u00fccklich, weil er sich f\u00fcr seine Schwester freute. Der kleine Drecksack hatte es ihr eingetrichtert. Gleich nachdem ich ihm vor zwei Tagen gesagt hatte, er d\u00fcrfe sich einen Tag aussuchen, was wir machen und an dem anderen Tag entscheidet seine Schwester, hat er sie bearbeitet.<\/p>\n

Dank seinen psychologisch einschl\u00e4gig bekannten Profi-Tricks (\u201eDa gibt es Pommes.\u201c), seiner penetranten Hartn\u00e4ckigkeit und seiner ausgewiesenen \u00dcberzeugungs-Expertise sagte mir nun meine Tochter, sie wolle ins Stadion. Vermutlich ohne wirklich zu wollen, denn sie hatte ja \u00fcberhaupt keine Ahnung, was ein Stadion ist.<\/p>\n

Klar, sie kickt ab und zu mal mit dem Gummiball im Wohnzimmer rum, hat eine gute rechte Klebe und eine f\u00fcr ihr Alter \u00fcberzeugende Schusstechnik. Ich kenne Jungs, die mit sieben Jahren nicht so koordiniert Anlauf nehmen und denen es nicht gelingt, das Standbein bei jedem Anlauf so perfekt neben dem Ball zu platzieren.<\/p>\n

Ihre Mama konnte gut kicken. Papa war jetzt auch nicht die v\u00f6llige Nulpe. Wer wei\u00df, was aus ihr wird. Sie mag Fu\u00dfball. Aber eben nur spielen.<\/p>\n

Selbst da ist es schwierig, da sie bei jedem Tor laut Foul schreit und bei Gegentoren rote Karten verteilt. Gerne greift sie auch mal zu den \u201egl\u00fcnen\u201c oder \u201eschwahzen\u201c Katen. (Sie kann noch kein \u201er\u201c).<\/p>\n

Stadion ist definitiv nichts, wo sie von alleine drauf kam. Der Blick des Sohnes war nun deutlicher zu lesen. Er grinste wie ein Honigkuchenpferd.<\/p>\n

So sehr ich mich kurzzeitig \u00e4rgerte, dass er aus ihrem Tag nun wieder klammheimlich seinen Tag gemacht hat, umso schneller sah ich auch das Positive. Er w\u00fcrde sich innerhalb von Stadien in einem f\u00fcr ihn bekannten Milieu bewegen und sich ihr gegen\u00fcber dann anders verhalten. Das ist wichtig, um zu verstehen, wie er tickt. Wenn er sich mit etwas auskennt, ist er diesbez\u00fcglich extrem zuverl\u00e4ssig. Als wir auf einer unserer ersten Touren waren, merkte man, was ihn bei seiner Leidenschaft f\u00fcrs Zugfahren noch st\u00f6rt. Er hatte extreme Angst, dass ich aussteigen k\u00f6nnte oder er in einem Bahnhof einfach rausf\u00e4llt und es nicht mehr zur\u00fcck in den Zug schafft, bevor die T\u00fcr schlie\u00dft. Ich begleitete ihn zur ICE-Toilette und er mich. Er lie\u00df mich keine Sekunde aus den Augen. Wir tasteten uns dann langsam Tour f\u00fcr Tour ran. Er ging dann alleine aufs WC, wenn das WC maximal Sichtweite entfernt war und wir uns in keinem Bahnhof aufhielten. Ich schickte ihn ins Bord-Bistro, um Eis f\u00fcr uns zu kaufen. Er musste die Sitzanzahl des gesamten Zuges z\u00e4hlen und schlie\u00dflich verschiedenste kleine Herausforderungen im Zug meistern. Schlie\u00dflich sprang ich dann in Hannover im Bahnhof aus dem Zug und schaute von au\u00dfen durchs Fenster. Es schockte ihn so derma\u00dfen, dass ich mich au\u00dferhalb des Zugs befand und er rastete nat\u00fcrlich v\u00f6llig aus, dass ich mir diesen bl\u00f6den \u201eSpa\u00df\u201c erlaubt hatte. Er hatte eine Heidenangst (was er nat\u00fcrlich nicht zugab). Es ist nicht so, dass er mir zutraut, ihn alleine zu lassen, aber er hat Angst dass dies versehentlich passieren kann. Er berechnet dann Wahrscheinlichkeiten, ob mir vielleicht auf H\u00f6he der offenen T\u00fcr am Bahnhof schwindelig werden k\u00f6nnte und ich dann einfach raus plumpse. Wir kl\u00e4rten dies dann in einem sp\u00e4teren Gespr\u00e4ch und konnten das Eis final brechen. Er wollte lediglich f\u00fcr alle Eventualit\u00e4ten vorbereitet sein.<\/p>\n

\u201eDu bleibst stehen, wo du bist, und suchst nach einem Mann mit Uniform der Deutschen Bahn oder einen Polizisten und sagst ihm deinen Namen und wo du wohnst und erkl\u00e4rst ihm, was passiert ist.\u201c<\/p>\n

\u201eOkay, ich k\u00f6nnte aber auch anhand des Fahrplans einfach nach Hause fahren, oder?\u201c<\/p>\n

\u201eAuch das w\u00e4re eine Option.\u201c<\/p>\n

Nicht, dass ich es darauf anlegen w\u00fcrde, aber ich k\u00f6nnte in jeder x-beliebigen Stadt mit Bahnhof aus dem Zug fallen und Jay-Jay w\u00fcrde nach Hause finden. Geografie ist mittlerweile einer seiner Schwerpunkte und wenn er ein Muster oder eine Logik in einem Aufbau findet, dann hat er leichtes Spiel.<\/p>\n

Sieht er in einem Stadion einen zur Orientierung dienenden Blockbuchstaben oder eine Blocknummer, fragt er, wo wir sitzen. Alles weitere bastelt er sich dann zusammen, sofern neben Block B nicht Block Z und daneben wiederum Block K liegt.<\/p>\n

Er kann sich unheimlich gut orientieren und sucht aktiv nach Mustern, Pl\u00e4nen und Anleitungen in seiner Umwelt. Piktogramme, Schilder, Parkhausnummern, Kontositzaufteilungen, Flugpl\u00e4ne, Excel-Tabellen mit den Ansto\u00dfzeiten der europ\u00e4ischen Ligen. Er findet Muster oder baut sich welche.<\/p>\n

Mit vier Jahren hat er angefangen, mich zu korrigieren, wenn ich ihm sagte, dass wir z. B. zur Oma fahren und ich dann von dem erlernten Fahrweg abwich. Er konnte dies schnell bei Strecken, die wir t\u00e4glich gefahren sind, war aber auch in der Lage, sich in einer Stadt, in der wir vielleicht zwei Monate zuvor rumgefahren sind, grob zu orientieren bzw. sich zu \u00e4u\u00dfern, wenn pl\u00f6tzlich etwas anders war, man einen anderen Weg fuhr oder vielleicht eine gro\u00dfe Baustelle verschwunden war.<\/p>\n

Wie gesagt. Wenn er sich dann mit etwas auskennt, ist er zuverl\u00e4ssig. Er ist dann auch entspannter. Unsere Stadiontouren haben mittlerweile ein so fantastisch flexibles Routineger\u00fcst, welches ihm mehr Halt gibt als der klassische Alltag, der dann doch von so vielen Faktoren beeinflusst wird, so dass er dort nicht so viele Routinen hat, an denen er sich orientieren kann. Er besteht mittlerweile im Stadion darauf, alleine aufs WC gehen zu d\u00fcrfen, da er ja unseren Platz oder die Blocknummer kennt und wei\u00df, wie eine Toilette ausgeschildert ist. Toilettenschilder sind immer gleich. Zu Hause ist dies schwieriger geworden.\u00a0Feste Abendessen oder Zu-Bett-Geh-Zeiten sind aktuell nicht m\u00f6glich, weil die Diskussionen, warum er denn jetzt ins Bett m\u00fcsse, wenn er doch der Chef des Hauses sei und \u00fcber alles zu entscheiden hat, viel Zeit und Geduld kostet. Vielleicht setzte eine \u00e4hnliche Chef-Diskussion aber auch nachmittags auf Basis einer anderen Kleinigkeit ein, so dass wir das Abendessen nach hinten verschieben mussten.<\/p>\n

Auf Touren darf er Chef sein. Da widerspreche ich ihm selten und es funktioniert gut. Ich lasse ihm Entscheidungsspielraum. Viel mehr als zu Hause. Da versuche ich, ihn deutlich strenger zu reglementieren. Zum Teil auch auf provokativ-hohem, \u00fcberforderndem Niveau. Aber auf Tour ist er der Boss. Er w\u00e4hlt den Platz, die Anreisemodalit\u00e4ten, die Art der Verpflegung und wenn er nach dem Spiel sagt, er m\u00f6chte jetzt einfach noch ein St\u00fcndchen im Stadion verbleiben, dann ist das so und dann habe ich das zu organisieren.<\/p>\n

Es ist dann eine seiner Welten, die er so f\u00fcr sich aufbaut. Davon gibt es viele, aber die Stadionwelt ist hier in diesem Fall die wichtigste. Er w\u00fcrde sicher R\u00fccksicht auf seine Schwester nehmen, er w\u00fcrde ihr vieles zeigen und erkl\u00e4ren wollen und g\u00f6nnerhaft aber liebevoll aus seinem reichhaltigen Profi-Groundhopper-Erfahrungsschatz teilen wollen.<\/p>\n

Das alleine sorgte f\u00fcr mein Hochgef\u00fchl, welches auch eine Paarung wie FSV Frankfurt gegen VfR Aalen<\/a> nicht verhindern konnte. Dass die Tochter eine Fahne wollte, die Tickets f\u00fcr den Sohn und mich 63 (D-r-e-i-u-n-d-s-e-c-h-s-z-i-g!) Euro kosteten, der Heimblock peinlich leise war (trotz zweier Ultrabl\u00f6cke mit zwei Capos f\u00fcr 120 singfreudige Fu\u00dfballfans) und auch die Tatsache, dass sich beide Teams wie eingangs beschrieben fein rausgeputzt hatten, um den Wochenendrebellen bestm\u00f6gliche Zweitligatristesse zu kredenzen, all das konnte mich nicht schocken. Ich freute mich sehr auf diesen Ausflug. Und ich wurde nicht entt\u00e4uscht. Jay-Jay k\u00fcmmerte sich die gesamte Bahnfahrt um seine Schwester, machte mit ihr eine Entdeckungstour durch den Zug und fragte im Bordbistro nach Spielzeug f\u00fcr Kinder und \u00fcbergab dies seiner Schwester. Er half ihr beim Toilettengang und hatte Verst\u00e4ndnis, dass ich sie am Bahnhof ein St\u00fcck tragen musste.<\/p>\n

Nur um das mal zu relativieren. Es ist noch keine zwei Jahre her, da wurden die Schritte gez\u00e4hlt, wie weit ich meine Tochter auf der Schulter trug. Mindestens die gleiche Anzahl an Schritten musste ich dann auch ihn durch die Gegend wuchten. Es war gro\u00dfartig. Er war, wie man sich einen gro\u00dfen Bruder vorstellt. F\u00fcrsorglich und liebevoll. Gro\u00dfartig. Ich lie\u00df ihn an dem Tag noch mehrfach mit seiner Schwester alleine und bat ihn, sich um sie zu k\u00fcmmern. Ich lie\u00df mir von ihm versprechen, dass er sich gut um sie k\u00fcmmert und auf sie aufpasst. Versprechen sind heilig. Ich beobachtete ihn heimlich, als ich die beiden alleine lie\u00df, um Pommes zu holen, zur Toilette zu gehen oder um Geld vom Geldautomaten abzuholen. Er bespa\u00dfte sie, half ihr beim Trinken oder hob sie wieder auf ihren Sitz und als sie anfing zu weinen, weil sie registriert hatte, dass Papa au\u00dfer Sichtweite war, tr\u00f6stete er sie liebevoll und versuchte sie abzulenken. Es war fantastisch. Das v\u00f6llig langweilige Spiel und die grottige Stimmung waren mir v\u00f6llig egal, weil vermutlich auch Neymar, Messi und Ronaldo da unten h\u00e4tten zaubern k\u00f6nnen und ich trotzdem einfach nur genie\u00dfend beobachten w\u00fcrde, wie die beiden miteinander interagierten. Es mag komisch klingen, aber seit der Geburt unserer Tochter erleben wir auch h\u00e4ufig Momente, die wir als Mutter und Vater eines Sohnes mit Asperger-Syndrom bisher nicht kannten. Es ist eine andere Form von k\u00f6rperlicher N\u00e4he, aber ich weigere mich zu akzeptieren, von normaler Zuneigung, normalem K\u00f6rperkontakt zu meiner Tochter zu sprechen, weil es gleichzeitig vielleicht gedeutet werden k\u00f6nnte, als w\u00e4re Jason Form der Zuneigung abnormal. Sie ist anders. Anders normal.<\/p>\n

Er entdeckte die Kamera, die vor Spielbeginn die Bilder der Zuschauer auf die Anzeigetafel \u00fcbertrugen und schlich sich die Reihen hinunter, um sich selbst auf der Anzeigetafel zu sehen und fragte seine Schwester, ob sie auch einmal auf dem Riesenfernseher zu sehen sein m\u00f6chte. Sie bejahte dies, was ihn dazu veranlasste, mir mitzuteilen, dass ich mich sofort darum zu k\u00fcmmern habe, dass die beiden auf der Anzeigetafel zu sehen sind, was f\u00fcr mich auch in der dargebotenen Deutlichkeit seiner Aussage nicht mehr ungew\u00f6hnlich war. V\u00f6llig neu war aber, dass ich ihm erkl\u00e4rte, dass ich schlecht hinuntergehen k\u00f6nne, um um Aufnahme meiner Kinder zu bitten und er akzeptierte dies. Er bat um Tipps, was er tun k\u00f6nnte, um das Ziel selbst zu erreichen und befolgte meinen Ratschlag, sich vielleicht ein wenig bemerkbar zu machen. Ich lernte, dass \u201eein wenig\u201c eine Gr\u00f6\u00dfeneinheit ist, die Jay-Jay und ich im Einzelfall noch zu kalibrieren haben.<\/p>\n

Nur wenige Sekunden sp\u00e4ter erstrahlte das Antlitz der beiden durchs Rund der Volksbank-Arena. Er hatte es geschafft. Er machte seine Schwester darauf aufmerksam, dass sie nun im Fernsehen ist. Und nun freute er sich. F\u00fcr sie.<\/p>\n

So verlief der gesamte Ausflug. Keine neidgetriebenen Attacken auf seine Schwester, keine Einforderungen von Taten oder Zugest\u00e4ndnissen der Gerechtigkeit wegen, weil ich der Tochter auch mal die alleinige Aufmerksamkeit hatte zukommen lassen.<\/p>\n

Er war von ihrem ersten Stadionbesuch aber auch ein wenig beeindruckt. Wir stimmten uns vorher ab, wie wir wohl damit umgehen werden, denn es w\u00e4re ja klar, dass die Tochter sp\u00e4testens nach zehn Minuten auf dem Stadionplatz sagt, ihr w\u00e4re langweilig und dass ich sie dann wohl besch\u00e4ftigen muss. Vielleicht auch au\u00dferhalb des Stadions, ganz sicher aber mindestens an einem anderem Ort innerhalb der Arena. Er entschied, in diesem Fall dann einen Treffpunkt festzulegen, wo man sich nach dem Spiel treffen k\u00f6nnte, denn er w\u00fcrde das Spiel gerne zu Ende sehen. Er sagte das so selbstsicher und voller Vertrauen in seine Orientierung, dass er sich ggf. auch am Bahnhof mit uns getroffen h\u00e4tte, was aber zum Gl\u00fcck gar nicht notwendig war. Die Tochter schwang ihre Fahne, beobachtete das Geschehen auf dem Platz und unterrichtete mich minuti\u00f6s \u00fcber das Verhalten des Maskottchens. Es sollte wohl ein B\u00e4r sein. Ich m\u00fcsste mir aber keine Sorgen machen. Sie ging davon aus, dass es kein echter B\u00e4r sei. Falls doch, k\u00f6nnten wir aber auch einfach weglaufen. Sie glaubte n\u00e4mlich, wir sind schneller als der B\u00e4r. Sie hatte riesig Spa\u00df und sie m\u00f6chte gerne wieder einmal mitfahren.<\/p>\n

Ich bin mir nicht sicher, ob Jay-Jay seinen Status verteidigen oder nur m\u00f6glichst langfristig sicherstellen wollte, dass seine Schwester nun \u00f6fters dabei sein muss.<\/p>\n

Er erkl\u00e4rte ihr, wie man Wochenendrebellin wird. Sie kann nat\u00fcrlich jetzt nicht einfach so mitkommen, sondern es gibt ein ausgekl\u00fcgeltes Qualifizierungssystem, welches sie bei ihm durchlaufen muss. Sie muss selbstverst\u00e4ndlich erst einmal in ein gr\u00f6\u00dferes Stadion und auch mindestens einmal in einen Steh-Block. Ein Flutlichtspiel diente als Achtelfinale, das Viertelfinale wurde bisher unterschlagen, aber das Halbfinale ist ein Spiel im Ausland. Das Finale wird dann ein Doppelspieltag sein, den sie inklusive einer \u00dcbernachtung mit uns verbringen m\u00f6chte. Erst dann, keinesfalls vorher, kann sie eine echte Wochenendrebellin sein. Die Tochter und ich, wir lassen uns nicht hetzen aber: Challenge accepted. Wir fahren am 23.05.2015 alle drei nach Hannover gegen den SC Freiburg<\/a>.<\/p>\n\n\n

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FSV Frankfurt-VfR Aalen, 26.04.2015 Es war das Wochenende, an dem wir dem HSV die vorletzte Ehre erweisen wollten. Zweitliga-Tristesse, ein Niveaulimbo der technischen Unzul\u00e4nglichkeiten, gepaart mit einem Vakuum an Kreativit\u00e4t im Mittelfeld und einer Stadionstimmung, wie ich sie auf unseren Touren nie zuvor bei sicheren Kandidaten f\u00fcr einen klaren Abstiegsplatz in unserem kleinen, internen Ranking gesehen habe. Der Sohn und ich bewerten Ausfl\u00fcge unter Ber\u00fccksichtigung aller dreihundertsechsundzwanzig Faktoren mit Noten, und alleine die Paarung deutete an, dass es f\u00fcrchterlich werden w\u00fcrde. Wir waren beim FSV Frankfurt, der im Zweitliga-\u201eEl Gigantico\u201c auf den VfR Aalen traf. Und niemals zuvor \u2013 und vielleicht werde ich es auch in Zukunft nie wieder \u2013 bin ich mit so einer enorm positiven Grundstimmung zu diesem Spiel gefahren. Oftmals besch\u00e4ftigen mich Dinge, bevor wir abreisen. Jason war ein wenig krank und du ahnst, dass ihn eine Tour\u00a0 gesundheitlich \u00fcberfordern k\u00f6nnte. Oder du wei\u00dft, dass er die letzten Tage so schlecht geschlafen hat und deshalb schneller, intensiver und dann nat\u00fcrlich auch publikumsreicher v\u00f6llig eskalieren wird. Dieses Mal war alles komplett frei von Sorgen und sogar mehr. Wen die Einleitung perplex zur\u00fcck l\u00e4sst, dem sei gesagt, dass wir am Tag zuvor im Volksparkstadion in Hamburg waren und uns …<\/p>\n","protected":false},"author":221,"featured_media":6756,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":{"footnotes":""},"categories":[2661,2590],"tags":[],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/2131"}],"collection":[{"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/users\/221"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=2131"}],"version-history":[{"count":0,"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/2131\/revisions"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/media\/6756"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=2131"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=2131"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=2131"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}