{"id":2196,"date":"2015-06-05T09:00:41","date_gmt":"2015-06-05T07:00:41","guid":{"rendered":"http:\/\/www.wochenendrebell.de\/?p=2196"},"modified":"2020-12-05T17:39:01","modified_gmt":"2020-12-05T16:39:01","slug":"minenfeld","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/wochenendrebell.de\/minenfeld\/unsortiert\/","title":{"rendered":"Minenfeld"},"content":{"rendered":"\n

Hannover 96-SC Freiburg, 23.05.2015<\/h2>\n\n\n

Die Skurillit\u00e4ts-Messlatte f\u00fcr die Kriterien, welches Spiel die Wochenendrebellen als n\u00e4chstes f\u00fcr einen Besuch ausw\u00e4hlen, liegt dank des Sohnes eigenartiger Auswahlprozesse ziemlich hoch.\u00a0Umso sch\u00f6ner, dass er seiner Schwester den Vortritt lie\u00df, zu entscheiden, wo sie ihr zweiter Stadionbesuch hinf\u00fchren soll.<\/p>\n

\u201eRot gegen Gr\u00fcn\u201c, antwortete sie ihm schnell und zielsicher, und wenn man an diese Farben in der Bundesliga denkt, dann landet man nat\u00fcrlich automatisch bei zwei Vereinen. Hannover gegen den SC Freiburg hie\u00df unser Spiel f\u00fcr das Wochenende.\u00a0
Der Abstiegskampf-Krimi sollte einen w\u00fcrdigen Saisonabschluss der Wochenendrebellen bilden, der dann doch beim RB Leipzig stattfand. Aber dazu ein andermal.<\/p>\n

Die Tickets f\u00fcr uns drei waren bereits gebucht, als der Sohnemann mir seine missliche Lage schilderte. Er hatte eine Einladung zu einem Geburtstag zugesagt, sich um den Termin an sich aber keine gro\u00dfen Gedanken gemacht. Nun, zwei Tage vor dem Spiel, bemerkte er seinen Fauxpas und bat mich in seiner unnachahmlichen Art um Hilfe.<\/p>\n

\u201eVerschieb das Spiel,\u201c<\/p>\n

\u201eRuf an, der soll seinen Geburtstag an einem anderen Tag feiern!\u201c<\/p>\n

\u201eL\u00f6s! Das! Problem!\u201c<\/p>\n

Eine Absage des Geburtstags stand eigentlich nicht zur Diskussion. Er wird nicht so h\u00e4ufig eingeladen, und selbst wenn dies einmal geschieht, dann hat man bei ihm nicht das Gef\u00fchl, dass er dort gerne hingehen w\u00fcrde. Das war dieses Mal anders. Ich vermag nicht einzusch\u00e4tzen, ob er den Jungen gerne mag, oder ob er einfach Bock darauf hatte, Bowlen zu gehen, was wohl Rahmenprogramm des Geburtstags sein sollte.\u00a0Es ist auch nicht auszuschlie\u00dfen, dass er nun einfach eine L\u00f6sung wollte, weil er schlie\u00dflich zugesagt hat, und sich nun wieder einmal nicht entscheiden kann, was er nun machen soll.\u00a0Ich bot ihm an, dass wir am Sonntag, quasi als Ersatz, zu einem Spiel der zweiten Liga fahren k\u00f6nnen, was er nach ein paar weiteren Zugest\u00e4ndnissen auch akzeptierte.\u00a0Im zweiten Schritt war dann geplant, der Tochter zu erkl\u00e4ren, dass wir am Samstag nicht ins Stadion fahren und die Tickets dann einfach kurzfristig verkaufen. Sie w\u00fcrde Verst\u00e4ndnis daf\u00fcr haben und hatte wahrscheinlich sowieso keine Lust, mit ihrem Papa alleine ins Stadion zu fahren.<\/p>\n

Ich war ziemlich angetan von der Stimmung in Hannover. Gut, es war sicherlich auch der extremem Situation geschuldet, dass man dem gesamten Stadion von der ersten bis zur letzten Minuten beim lautstarken Support lauschen konnte. Die Tochter war nat\u00fcrlich nicht einverstanden, auf den Trip zu verzichten, und auch der Ausblick darauf, einfach deutlich mehr Zeit im Zoo zu verbringen, missfiel ihr. Der Zoobesuch war urspr\u00fcnglich als kleines Stadion-Warm-Up angedacht und ich hoffte, wenn sie schon nicht auf den gesamten Ausflug verzichtete, vielleicht konnte sie eine Erweiterung des Zooprogramms \u00fcberzeugen, auf den Besuch des Spiels zu verzichten.<\/p>\n

\u00a0<\/p>\n

In der Zwischenzeit machte man mich auf Twitter darauf aufmerksam, dass es vielleicht auch nicht so ganz fair ist, als neutraler Zuschauer zu einem Spiel zu fahren, dessen Ausgang f\u00fcr uns nicht von gro\u00dfer Bedeutung ist. Ein nachvollziehbarer Einwand, \u00fcber den ich mir bis dato keine Gedanken gemacht hatte. Klar, es gibt sicherlich kein Gesetz, welches nur Fans der teilnehmenden Vereine zum Besuch eines Spiel legitimiert, aber ich konnte den Punkt nachvollziehen, auch wenn es bei uns nicht klassisch eine Tour des Eventes wegen ist, bzw. bei Jay-Jay die Unterscheidung zwischen VFR Aalen gegen SV Sandhausen<\/a> und Inter Mailand gegen Lazio Rom nicht so gro\u00df ist, wie das vielleicht bei 99,5 % der Fans, Sandh\u00e4user und Aalener eingerechnet, der Fall w\u00e4re.<\/p>\n

Auf dem Platz zu sitzen von jemandem, der vielleicht viel intensiver miterlebt, sein Team mehr unterst\u00fctzt und der vielleicht in vielen Jahren zur\u00fcckblickt und den Moment im Stadion, als sein Team die Klasse gesichert hat, als einen seiner gr\u00f6\u00dften Fu\u00dfballmomente in Erinnerung beh\u00e4lt; f\u00fchlte sich trotzdem nicht zwingend richtig an.\u00a0Andererseits sind dies vielleicht die Spiele, die dich zum Fan eines Vereins machen, wenn man die eigentliche Intention unseres Projektes ber\u00fccksichtigt. Schwierig, denn ich m\u00f6chte ihn auch nicht fiebernd vor dem TV bei einem Relegationsspiel dem HSV in die H\u00e4nde gleiten lassen. Vermutlich l\u00e4uft es auf einen Mittelweg hinaus. Abstiegsendspiele werden wir wohl so in der Form nicht mehr besuchen, es sei denn, es gibt auch wenige Tage zuvor noch Karten im freien Verkauf, so wie es hier in Hannover aber ebenfalls auch noch der Fall war. Geht es um den Aufstieg, die Meisterschaft und um das Finale eines Pokals, sehe ich es vielleicht nochmal ein wenig anders, aber das w\u00fcrde nun im Detail zu weit gehen. So fuhr ich eben nur mit der Tochter nach Hannover und konnte mich mit dem Verschenken des Tickets f\u00fcr das geschenkte Ticket in Nancy revanchieren. Also zumindest so auf Karma-Ebene.<\/p>\n

\u00a0<\/p>\n

Dem stark angetrunkenen Kasper neben mir habe ich dann die einzigen zwei mulmigen Minuten nach Spielschluss zu verdanken. Wir sa\u00dfen unmittelbar unterhalb des Freiburger G\u00e4steblocks. Die Stimmung war entsprechend angespannt. Ich hatte \u00fcbrigens nicht den Eindruck, dass die Aggression vom Freiburger Block ausging. Da war viel Trauer, Wut und Entt\u00e4uschung, die sich aber bis dato nur durch einen pr\u00e4sentierten nackten Hintern und einige Pfiffe darstellte, weil sich au\u00dfer dem Trainer Streich niemand des Teams aufrichtig beim G\u00e4steblock bedankt\/verabschiedet hat.\u00a0Die Problematik begann, als einige Hannover-Fans anfingen, den G\u00e4steblock zu provozieren. Der G\u00e4steblock wurde mit den Handys von mehreren H96-Fans gefilmt und die Bitte, das zu unterlassen, die aus dem Block nicht h\u00f6flich, aber der Situation durchaus angemessen, ge\u00e4u\u00dfert wurde, blieb zwar nicht ungeh\u00f6rt, aber es wurde ihr nicht entsprochen. Im Gegenteil, mit diversen Gesten vom Mittelfinger \u00fcber Onanie-Pantomime bis zur eindrucksvollen Darstellung, man w\u00fcrde sich Tr\u00e4nen aus dem Gesicht wischen, war alles dabei. Die Ordner sahen dem Treiben munter zu, was ich nicht zwingend als Kritik verstanden wissen m\u00f6chte, aber vielleicht h\u00e4tte man es da doch besser unter Kontrolle bekommen k\u00f6nnen. Die Kapuzen huschten \u00fcber die K\u00f6pfe, die Halst\u00fccher wurden \u00fcber Mund und Nase gespannt und als die Sonnenbrillen in der ersten Reihe des G\u00e4steblocks trotz schattiger Pl\u00e4tzchen \u00dcberhand gewannen, war gl\u00fccklicherweise mit gen\u00fcgend Vorlauf klar, dass man hier mit einem Kind einen l\u00e4ngeren Aufenthalt vermeiden sollte. Da der Block S8 aber nur zu Verlassen ist, wenn man unterhalb des gesamten G\u00e4steblocks vorbeigeht, entschieden wir uns f\u00fcr die Variante, den kurzen M\u00fcnz- und Feuerzeugregen, den ein vorm G\u00e4steblock tanzender Hannover-Fan ausl\u00f6ste, hinter einem Blockmasten zu verbringen.<\/p>\n

Die Tochter war begeistert. Sie wollte von Anfang an nicht auf den Stadionbesuch verzichten.Es war mir zeitweise wirklich unangenehm, dem brisanten Spiel mit meiner emotionalen Unbeteiligung und der Herangehensweise meiner Tochter beizuwohnen.
\u201eWarum darf der gelbe Mann in die Hand nehmen?\u201c<\/p>\n

\u201eWo ist der Schienslichter?\u201c<\/p>\n

\u201eWalum klicht der keine gl\u00fcne Kahte? Oder eine gelbe?\u201c<\/p>\n

Sie klatschte eifrig mit, als der Freiburger G\u00e4steblock in der ersten Spielminute den Ton angab, und klatschte genauso weiter, als dann die Fans von Hannover 96 das Zepter in die Hand nahmen. Das unangenehme Gef\u00fchl, wirklich fehl am Platz zu sein, wich der Freude, zu sehen, wie viel Spa\u00df sie hatte.<\/p>\n

\u00a0<\/p>\n

Jay-Jay war w\u00e4hrenddessen auf einem Geburtstag, weil er sich wohl dem Jungen gegen\u00fcber verpflichtet f\u00fchlte, hinzugehen. Er wei\u00df, was Absagen bedeuten. Er kassierte ja gen\u00fcgend auf seinen Geburtstagen, wo wir schon meist bez\u00fcglich der Anzahl \u00fcber Geb\u00fchr einladen, damit wir nicht am Ende zu viert feiern. Oftmals sind die Gegenbesuche der direkten Nachbarschaft oder dem guten Verh\u00e4ltnis zu den Eltern des eingeladenen Kindes geschuldet. In keinem der F\u00e4lle ist es Besuch, der zu Jay-Jay eine freundschaftliche, enge Beziehung pflegt.<\/p>\n

Das Thema Freundschaft ist weiterhin ein mit \u00fcppigen Problemen unbestelltes Minenfeld.Die Klassenkameraden wechseln im Sommer in Verbindung mit einem Schulwechsel, und die Cliquen innerhalb der Klasse sind alle gebildet. Ohne Jay-Jays Teilnahme.<\/p>\n

Jay-Jay versichert uns auch ziemlich glaubhaft, dass ihn das nicht st\u00f6rt, oft alleine zu sein bzw. im Schwerpunkt mit uns zu spielen, zu lesen, draussen unterwegs zu sein. Eher selten kommt mal ein Junge zu Besuch. Und wenn dies mal der Fall ist, braucht er nach seinem Besuch bei uns erst einmal ein paar Tage Regeneration, bis er sich wieder traut, Kontakt aufzunehmen. Jay-Jay kann mit Worten sehr ruppig sein. Trotzdem steht seine Tonalit\u00e4t und Lautst\u00e4rke und ihre Heftigkeit dem aggressiven Inhalt seiner Aussagen in nichts nach.<\/p>\n

\u201eDer kann sich verpissen, wenn er sich noch einmal an meiner Legostadt vergreift.\u201c<\/p>\n

Vielleicht steht nach dem Spielen der Lego-Bahnhof nicht mehr an der gleichen Stelle, oder das Legom\u00e4nnchen, welches vor der Lego-Pizzabude steht, schaut nicht mehr in die richtige Richtung. Dies kann durchaus ausreichen, um den Besuch des Klassenkameraden abrupt zu beenden.<\/p>\n

Bei Lars war das anders. Zwischen den beiden schien es zu funktionieren. Vielleicht k\u00f6nnte er sogar guten Einfluss auf ihn haben. Er war direkt und ohne gro\u00dfe Ber\u00fchrungs\u00e4ngste. Auch uns gegen\u00fcber. Zwischendurch kam er runter und sagte, er h\u00e4tte Hunger. Das passierte w\u00e4hrend der Besuche auch durchaus drei oder vier Mal.<\/p>\n

\u201eEy, Alter. So kannste echt nicht mit deinen Eltern reden. Das ist ziemlich respektlos.\u201c<\/p>\n

\u201eNa und, ich darf das hier. Ich bin n\u00e4mlich hier der Chef. Meine Eltern haben mir gar nichts zu sagen. Ich bin f\u00fcr mich selbst verantwortlich.\u201c<\/p>\n

Wir stehen dann recht unbeteiligt daneben, wenn sich der Junge mit dieser Konversation von Jay-Jay verabschiedet. Es ist nicht so, dass die Kraft nicht da w\u00e4re, es auszudiskutieren, wobei es sicherlich auch \u00e4hnliche Entscheidungen mit \u00e4hnlicher Tendenz gibt, die mangels Kraftlosigkeit so entschieden worden w\u00e4ren.<\/p>\n

In diesem Fall ist tats\u00e4chlich so, dass wir abw\u00e4gen, was wir alles noch zulassen m\u00fcssen, damit vielleicht auch nochmal einer der Jungen zu Besuch wiederkommt. Eine weitere Eskalation, mit einem mittlerweile zehn Jahre alten Jungen von satten 30 kg, ist eben auch was anderes, als der F\u00fcnfj\u00e4hrige, den ich im Zweifelsfall auch um sich schlagend auf die Schulter hieven kann, um ihn in sein Zimmer zu verfrachten. Das geht nicht mehr. Daher vermeiden wir insbesondere in dem Zusammenhang mit Besuch von Jay-Jays Schulkameraden m\u00f6glichst jede Eskalation. Eskalation hei\u00dft in unserem Fall meistens, dass sie nur zu vermeiden ist, wenn wir \u201ezulassen\u201c. Der Wut, Trauer, \u00c4rger, Hass, was auch immer ihn antreibt, ein Ventil geben.<\/p>\n

Jede ruhige Minute ist eine gute Minute und eine Minute, in der er vor einem Klassenkameraden den Macker spielt, ist unserer Meinung nach eine gute Minute.<\/p>\n

Auch wenn er Gefahr l\u00e4uft, sich bei den Jungs l\u00e4cherlich zu machen. Das w\u00e4re so ziemlich die ungl\u00fccklichste Entwicklung. Dies w\u00fcrde aber voraussetzen, dass der Junge, der zu Besuch ist, einzusch\u00e4tzen wei\u00df, warum wir Jay-Jay uns gegen\u00fcber mit seinen Unversch\u00e4mtheiten und Respektlosigkeiten so gew\u00e4hren lassen. Es ist weiterhin durchaus hart, die Blicke der beteiligten Nachbarn oder der Eltern von Klassenkameraden, die wir kennen, zu sehen, wenn Jay-Jay sein Tiraden im Supermarkt oder bei Verwandtenbesuchen losl\u00e4sst. Bei den Blicken der umstehenden Personen ist dann auch wirklich alles dabei. Der Vorwurf der Unf\u00e4higkeit als Eltern, die, die es uns als Arroganz auslegen, die, die der Meinung sind, man k\u00f6nnte dem Problem auch durch k\u00f6rperliche Z\u00fcchtigung beikommen, und nat\u00fcrlich die, die genau wissen, wie man sich jetzt eigentlich zu verhalten hat, um den jungen Mann in seine Schranken zu weisen. Es ist erstaunlich, aber auch logisch, welche Reaktionen sein Auftreten bei Menschen verursachen kann. In beide Richtungen. Es gibt ja auch Situationen oder Treffen mit Menschen, die gar nicht fassen k\u00f6nnen, was f\u00fcr ein aufgeweckter, am\u00fcsanter und unterhaltsamer Kerl er sein kann.<\/p>\n

Trotzdem klappte da eben nichts mit Freunden oder so. Bis vor ein paar Wochen eben besagter Lars das erste Mal zu uns kam. Vom ersten Besuch an lief es mit dem ein Jahr \u00e4lteren und k\u00f6rperlich wesentlich weiteren Jungen recht gut. Er kam fast t\u00e4glich zu uns und verschwand umgehend mit Jay-Jay in seinem Zimmer. Dort herrschte dann meistens f\u00fcr eine l\u00e4ngere Zeit Funkstille. Eine Situation, die es sich eigentlich zu genie\u00dfen lohnt.<\/p>\n

Ein oder zwei Stunden am Nachmittag, wo meine Frau ihn nicht bespa\u00dfen und besch\u00e4ftigen muss, keine launischen Ausraster, keine Provokationen seiner Schwester gegen\u00fcber, Ruhe auch f\u00fcr unsere Nachbarn. Herrlich. Wir wagten es kaum, die beiden oben zu st\u00f6ren, und nur gelegentlich riefen wir hoch, um die R\u00fcckmeldung zu erhalten, dass bei ihnen oben alles bestens sei.<\/p>\n

Antwortete Jay-Jay die ersten Tage abends noch relativ gelangweilt, dass sie entspannt h\u00e4tten, was er lt. seiner Aussage eigentlich vierundzwanzig Stunden tut, so differenzierte er nun doch ein wenig, als ich ihn erneut fragte, was sie denn da oben so treiben.<\/p>\n

\u201eLars zockt am Computer, und ich lese meistens.\u201c<\/p>\n

\u00c4rgerlich. Lars war eigentlich nicht wegen Jay-Jay hier, sondern weil er hier \u00fcber einen von d\u00fcmmlichen Eltern ungesch\u00fctzten Computer mit Internetanschluss verf\u00fcgen kann. V\u00f6llig ungest\u00f6rt. Und Jay-Jay war es egal, wer da noch rumsa\u00df. So lange er jemanden in seiner N\u00e4he hat, verbringt er gerne Zeit in seinem Zimmer.<\/p>\n

Er liebt sein Zimmer, oder besser gesagt, seine beiden Zimmer, die individuell, seinen abstrusen Anspr\u00fcchen gem\u00e4\u00df, eingerichtet wurden. In einem Zimmer herrscht das Thema Weltraum vor. Eine Erdkugel-Lampe, mehrere Sternengebilde als Poster, sowie das Planetensystem an einer Wand dargestellt, mit Hilfe von einzelnen Wandtattoo-Planeten.<\/p>\n

Ich erinnere mich gerne an die Zeit, wie er mir bei der Einrichtung vorrechnete, welche Abst\u00e4nde wir einzuhalten h\u00e4tten, damit der Ma\u00dfstab bei den Entfernungen der einzelnen Himmelsk\u00f6rper stimme. \u201eOkay, dann gibt es eben keine Sonne,\u201c habe ich ihm gedroht, woraufhin er einlenkte, unter der Ber\u00fccksichtigung, dass dies wohl in Ordnung sei, da der Durchmesser der Klebeplaneten ja ebenfalls nicht in sinnigem Verh\u00e4ltnis zu ihrer jeweiligen tats\u00e4chlichen Gr\u00f6\u00dfe sei.<\/p>\n

\u201eWo hast du die Planeten her? Was sind das denn f\u00fcr Idioten. Nichtsk\u00f6nner.\u201c<\/p>\n

Er n\u00f6tigte mich damals, den Hersteller anzuschreiben, damit dieser sich f\u00fcr diesen groben Bock entschuldigen kann. Zum Gl\u00fcck habe ich die E-Mail nie versandt.<\/p>\n

In diesem Zimmer steht auch sein Raketenhochbett und die technischen Utensilien, um noch eine Folge Podcast zu h\u00f6ren, wenn er abends zu Bett gehen soll.<\/p>\n

Er h\u00f6rt bunt, schl\u00e4ft aber mittlerweile am schnellsten bei Collinas Erben (Sorry!) ein. Schlimm sind wissenschaftliche Podcasts zum Thema Universum. Da k\u00e4mpft er extrem lange gegen den Schlaf an, weil er Angst hat, dass ihm dort Wissen fl\u00f6ten geht.<\/p>\n

In diesem Zimmer steht auch seine gebaute Legostadt. Da fahren nat\u00fcrlich die Z\u00fcge durch die Gegend und auch wenn die ganze Stadt nach reinstem Lego-Chaos<\/a> aussieht, hat alles seinen festen Platz. Hier duldet er, dass die Stadt M\u00fcnchen keinen Kopfbahnhof hat (\u201eIch hab M\u00fcnchen-Pasing gebaut\u201c) und hier sieht er \u00fcber fehlende Logik im Bebauungsplan gener\u00f6s hinweg. Das ist sehr sch\u00f6n f\u00fcr uns.<\/p>\n

\u00a0<\/p>\n

Das zweite Zimmer ist das Fu\u00dfball-Zimmer. Er nennt es mittlerweile seine Entspannungsoase und die Geschichte<\/a> dazu, wie es zu der Bezeichnung Entspannungszimmer kam, erz\u00e4hle ich vielleicht lieber ein anderes Mal.\u00a0<\/p>\n

Thematisch regiert hier aber K\u00f6nig Fu\u00dfball. An einer Wand h\u00e4ngen all seine Devotionalien aus den Stadionbesuchen. Eintrittskarten, Ausschnitte aus Zeitungen, Klatschpappen, Getr\u00e4nkebecher, Aufkleber, kleine Give-aways und nat\u00fcrlich ein Teil seiner Schals.<\/p>\n

In diesem Zimmer hat er seit Ende letzten Jahres einen Computer mit Internetanschluss. Er braucht dies immer mal wieder, um f\u00fcr die Schule etwas zu recherchieren, und er liebt die Dokumentationsvielfalt von Youtube und hat auch dort seine angefangenen Blogbeitr\u00e4ge gespeichert. Man mag die Einrichtung eines eigenen Computers f\u00fcr \u00fcberdimensioniert halten, wenn es um einen Neunj\u00e4hrigen geht, aber wir hatten null Sorgen bez\u00fcglich seines verantwortungsvollen Umgangs mit dem Internet und wollten einen Anreiz schaffen, sich mit Themen, die ihn interessieren, auseinander zu setzen.<\/p>\n

Schach, Landkarten, St\u00e4dtekennzahlen wie Einwohnerzahl und Fl\u00e4che interessieren ihn, genau so wie Bergh\u00f6hen und Ozeantiefen. Er kann Stunden mit Google Earth verbringen, wenn er mit seinem Opa in dessen B\u00fcro sitzt.\u00a0Aber er akzeptiert Regeln im Umgang mit Computern. Seinen eigenen Twitteraccount nutzt er nur im Beisein meiner Frau oder mir und eine intensive Kontrolle des Google-Verlaufs best\u00e4tigte jeden einzelnen Clip, von dem er uns berichtete, und der keinerlei Anlass f\u00fcr Sorgen machte.<\/p>\n

Er l\u00fcgt uns auch nicht an. Da kann man sich hundertprozentig drauf verlassen. In zweifelhaften Situationen, gleich auf welcher Seite die Zweifel sind, geben wir uns zur Versicherung der Aussage seit Jahren die Hand. F\u00fcr ihn ist das wahnsinnig hilfreich, weil er uns so bei jeder Notl\u00fcge entlarven kann und es ihm die Gewissheit gibt, dass wir ihm keinen Unsinn erz\u00e4hlen, und f\u00fcr uns ist es enorm wichtig, ihn zu sch\u00fctzen, wenn es nach einer Eskalation mal wieder \u00c4rger f\u00fcr ihn gab, obwohl er vielleicht in diesem einen von hundert F\u00e4llen auch mal nicht der Schuldige gewesen ist, der die Provokation hervorgerufen hat. Wen er dies in die rechte Hand verspricht, oder eben den Handshake verweigert, wissen wir immer was los ist. In dem Zimmer steht noch sein Stadion f\u00fcr sein Tipp-Kick-Spielfeld, womit man aber nie spielen kann, weil man sonst das Stadion kaputt macht, und eine Couch mit einer Leselampe, vielleicht etwas mit Potential f\u00fcr seinen Ruhe- und R\u00fcckzugsort, so hofften wir.<\/p>\n

Seit neustem stehen in seinem Zimmer auch eine Cocktailbar, ein Springbrunnen, ein Teleskop, ein Mikroskop, eine zus\u00e4tzliche Lampe mit Lichtwechseleffekten. Man k\u00f6nnte behaupten, wir haben den \u00dcberblick verloren. Aber irgendwie hat das alles so seine Richtigkeit. Auch wenn er, wie gesagt, nie oben ist. Also alleine. Auch nachts nicht. W\u00fcrden meine Frau oder ich nicht mit ihm in sein Zimmer gehen, w\u00e4re er vermutlich niemals oben. Ich hatte schon \u00fcberlegt, ob ich vielleicht umziehen sollte. Zumindest nachts, denn die Vierj\u00e4hrige weigert sich nat\u00fcrlich auch erfolgreich, ebenfalls in ihrem Zimmer zu schlafen, was f\u00fcr unkomfortable N\u00e4chte sorgt.<\/p>\n

Die einzige M\u00f6glichkeit ist, sich mit Jay-Jay in sein Bett zu legen und auf die Podcastauswahl zu hoffen, da man sivh sonst garantiert nachts pl\u00f6tzlich erwacht, mit schmerzenden Knochen, in einem viel zu kleinen Hochbett wiederfindet, welches man auch nur \u00fcber eine Rutsche leise wieder verlassen kann, weil man nicht mehr die notwendige Statur hat, den Raketeneingang \u00fcber die Leiter zu nehmen. Ich schlafe fast immer vor ihm ein, daher ziehen wir diese Option nur noch selten.<\/p>\n

Man sieht, runtergebrochen sind unsere Probleme mit Jay-Jay, aus dem richtigen Blickwinkel betrachtet, als relativ klein und nichtig erkennbar, aber das Kn\u00fcpfen von Kontakten zu Gleichaltrigen entwickelt sich zu einem gro\u00dfen Problem.<\/p>\n

Da ist halt mal so rein gar niemand, der dir auf dem Schulhof beisteht, wenn die gro\u00dfen deine Brotbox pl\u00fcndern wollen und f\u00fcr jemanden, der gerne diskutiert, wer auf welchem Platz zu sitzen hat und wer vielleicht auch nicht neben ihm oder ihm gegen\u00fcber sitzen darf, sind Schulbusse ohne Bekanntschaften oder Freunde auch Feindesland.\u00a0Dies veranlasste uns dazu, Lars‘ Besuche nicht zu f\u00f6rdern, aber eben auch keinesfalls in irgendeiner Art und Weise zu st\u00f6ren.<\/p>\n

\u00a0<\/p>\n

Lars zockte Minecraft. Zumindest bis zu dem Tag, wo Jay-Jay mir vom \u00fcblichen Ablauf w\u00e4hrend Lars‘ Besuchen berichtete. Es war nur eine Einrichtung einer FSK-12-Sperre sp\u00e4ter, und Lars kam ein letztes Mal.<\/p>\n

Dumm von uns, dumm f\u00fcr uns, f\u00fcr Jay-Jay aber keine gro\u00dfe Sache.<\/p>\n

Ich versuchte, mich in Jay-Jays Lage zu versetzen, und bef\u00fcrchtete er w\u00e4re tief entt\u00e4uscht, dass sein Computer in Lars‘ Beliebtheitsranking wohl \u00fcber ihm stehen w\u00fcrde und suchte das Gespr\u00e4ch mit ihm, in der Hoffnung, seine Betroffenheit lindern zu k\u00f6nnen.<\/p>\n

Er empfand das gar nicht nicht so, dass Lars ihn ausgenutzt hatte, als Zugang in die Ballerspielwelt, die ihm seine Eltern vermutlich zu Hause vorenthalten oder streng eingrenzen. Jay-Jay empfand dies als absolute Win-Win-Situation.<\/p>\n

\u201eWieso? Ich bin nicht oben alleine und kann machen, was ich machen m\u00f6chte und er geht mir nicht auf den Sack. Das war schon okay so.\u201c<\/p>\n

Er war zufrieden mit der Einteilung. Immer und immer wieder h\u00f6ren wir aus Gespr\u00e4chen heraus, dass er das ganz gut findet, dass er keinen Freund hat.<\/p>\n

Er will keinen Freund haben und ich habe keine Ahnung, ob wir lernen das zu akzeptieren.<\/p>","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Hannover 96-SC Freiburg, 23.05.2015 Die Skurillit\u00e4ts-Messlatte f\u00fcr die Kriterien, welches Spiel die Wochenendrebellen als n\u00e4chstes f\u00fcr einen Besuch ausw\u00e4hlen, liegt dank des Sohnes eigenartiger Auswahlprozesse ziemlich hoch.\u00a0Umso sch\u00f6ner, dass er seiner Schwester den Vortritt lie\u00df, zu entscheiden, wo sie ihr zweiter Stadionbesuch hinf\u00fchren soll. \u201eRot gegen Gr\u00fcn\u201c, antwortete sie ihm schnell und zielsicher, und wenn man an diese Farben in der Bundesliga denkt, dann landet man nat\u00fcrlich automatisch bei zwei Vereinen. Hannover gegen den SC Freiburg hie\u00df unser Spiel f\u00fcr das Wochenende.\u00a0Der Abstiegskampf-Krimi sollte einen w\u00fcrdigen Saisonabschluss der Wochenendrebellen bilden, der dann doch beim RB Leipzig stattfand. Aber dazu ein andermal. Die Tickets f\u00fcr uns drei waren bereits gebucht, als der Sohnemann mir seine missliche Lage schilderte. Er hatte eine Einladung zu einem Geburtstag zugesagt, sich um den Termin an sich aber keine gro\u00dfen Gedanken gemacht. Nun, zwei Tage vor dem Spiel, bemerkte er seinen Fauxpas und bat mich in seiner unnachahmlichen Art um Hilfe. \u201eVerschieb das Spiel,\u201c \u201eRuf an, der soll seinen Geburtstag an einem anderen Tag feiern!\u201c \u201eL\u00f6s! Das! Problem!\u201c Eine Absage des Geburtstags stand eigentlich nicht zur Diskussion. Er wird nicht so h\u00e4ufig eingeladen, und selbst wenn dies einmal geschieht, dann hat man bei ihm nicht das …<\/p>\n","protected":false},"author":221,"featured_media":0,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":{"footnotes":""},"categories":[2610],"tags":[],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/2196"}],"collection":[{"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/users\/221"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=2196"}],"version-history":[{"count":0,"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/2196\/revisions"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=2196"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=2196"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=2196"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}