{"id":2847,"date":"2016-06-10T07:01:14","date_gmt":"2016-06-10T05:01:14","guid":{"rendered":"http:\/\/www.wochenendrebell.de\/?p=2847"},"modified":"2022-12-25T19:26:43","modified_gmt":"2022-12-25T18:26:43","slug":"autismus-schule-mitschulerinformation","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/wochenendrebell.de\/autismus-schule-mitschulerinformation\/autismus-spektrum\/aussensicht\/","title":{"rendered":"Autismus in der Schule"},"content":{"rendered":"\n

Wie Jason seinem Mitsch\u00fclern mitteilte, dass er Autist ist.<\/h2>\n\n\n

Kennt ihr diese r\u00fchrselig-sch\u00f6nen und manchmal aber auch wirklich be\u00e4ngstigenden Stories von V\u00e4tern? Von V\u00e4tern, die versuchen, ihren Kindern liebevoll, verzweifelt oder unangebracht dr\u00e4ngend das zu g\u00f6nnen, was sie in der Kindheit an Erfahrung f\u00fcr wichtig erachteten. Vielleicht, weil sie der Meinung sind, dieses Kindheitserlebnis ist f\u00fcr die Entwicklung des eigenen Nachwuchses so essentiell, weil es bei einem selbst so pr\u00e4gend war oder zumindest intensiv haften geblieben ist. Oder es ist die frustbehaftete Retrospektive, was einem in der Kindheit alles so nicht geg\u00f6nnt wurde.<\/p>\n

Ich habe mein erstes Spiel als aktiver Fu\u00dfballer 13-0 verloren. Es war das erste Jahr E-Jugend, ich wurde mehrfach ein- und wieder ausgewechselt und wir trugen keinen R\u00fcckennummern. Vermutlich hat der Sponsor nicht gen\u00fcgend springen lassen. Es reichte nur f\u00fcr die wei\u00dfen Trikots mit schwarzen \u00c4rmeln. Den Namen des Sponsors hatte ich vergessen, aber ich erinnere mich, dass wir unsere Hosen und Stutzen selbst mitzubringen hatten. Die Farbdisziplin bei der Hosenwahl lie\u00df zu w\u00fcnschen \u00fcbrig. Ich trug immer eine blaue Hose, manche eine wei\u00dfe, einer sogar eine rote, aber die meisten trugen wie vom Trainer gew\u00fcnscht eine schwarze Hose. Aber alle trugen schwarze Schuhe. Es gab nicht einmal andersfarbige zu kaufen, meine ich mich erinnern zu k\u00f6nnen. Die taktischen Anweisungen, die ich damals vom Trainer erhielt, kamen und k\u00e4men noch heute meiner spieltaktischen Auffassungsgabe zu Gute.<\/p>\n

\u201eMirco, geh nach vorne!\u201c<\/p>\n

Manchmal auch:<\/p>\n

\u201eMirco, geh nach hinten!\u201c<\/p>\n

Wir haben so derma\u00dfen einen auf den Arsch bekommen, aber ich habe es gar nicht gerafft. Mir war zwar klar, dass wir verlieren, aber dieses Ma\u00df an Deutlichkeit, welches gl\u00fccklicherweise auch nie wieder eine Wiederholung erfuhr, wurde \u00fcberdeckt von diesem Rauschgef\u00fchl, ein Trikot zu tragen, Fu\u00dfballschuhe an den F\u00fc\u00dfen zu sp\u00fcren und einem Ball hinterherlaufen zu d\u00fcrfen.\u00a0Ich werde dieses Spiel nie vergessen.\u00a0Ziemlich genau ein Jahr sp\u00e4ter war es erneut der Serienauftakt der E-Jugend. Nun geh\u00f6rte ich zum \u00e4lteren Jahrgang der E-Jugend und wir spielten ein Turnier im Nachbardorf.<\/p>\n

Eine nur m\u00e4\u00dfig erfolgreiche Saison lag hinter uns und insbesondere hinter mir. Wir verloren nahezu jedes Spiel und ich wurde immer mal gelegentlich eingewechselt. Einigen \u201eMartin, geh nach vorne\u201c oder eben nach hinten folgte irgendwann ein \u201eMartin, lauf einfach dem Ball hinterher\u201c. Im R\u00fcckblick bef\u00fcrchte ich, dass dies nicht meiner enormen l\u00e4uferischen St\u00e4rke zu verdanken, sondern eher meiner mangelnden N\u00fctzlichkeit im jeweiligen Spielfeldbereich geschuldet war. Wir spielten f\u00fcnf Spiele, gewannen das Turnier und ich erzielte sieben von neun Toren. Ein Youtube-Video meines Torjubels nach dem ersten Treffer h\u00e4tte sicherlich zwanzig Quadrilliarden Aufrufe. Die Menge fing mich gl\u00fccklicherweise und auch die Metallbarrieren rund um den Platz erf\u00fcllten ihren Zweck, mich zu stoppen. Das erste Tor. Ich werde dieses Spiel nie vergessen. Es folgten unz\u00e4hlig viele Spiele. Von der E-Jugend bis zur ersten Seniorensaison verpasste ich nahezu kein Spiel. Ich liebte alles an diesem Sport. Das Brennen am von Gr\u00e4tschen geschundenen Oberschenkel unter der versifften, nat\u00fcrlich immer kalten und meistens nur tr\u00f6pfelnden Dusche der mit Maulwurfsh\u00fcgeln \u00fcbers\u00e4ten Gel\u00e4ufe der Kreisliga, das Gezeter der Rentner-Ecke, die vor f\u00fcnfzig Jahren den Ball nat\u00fcrlich per Flugkopfball noch von der Linie gekratzt h\u00e4tten und die sowieso alles viel filigraner, m\u00e4nnlicher, eben einfach besser gel\u00f6st h\u00e4tten, als es noch barfu\u00df gegen Eisenkugeln ging. Das Klacken der Stollen, wenn du vom urin-eitrig-gelben PVC-Boden auf den w\u00fcrg-karamellfarbigen Fliesenboden geschritten bist, der Duft aus der viel zu engen Kabine, dieses Gemisch aus Fu\u00dfschwei\u00df, Mentholsalbe oder Pferdesalbe und – sp\u00e4testens wenn du f\u00fcr die Reserve ranmusstest – auch aus schalem Bieratem. Und nat\u00fcrlich liebte und lebte ich f\u00fcr diese kurze, aber sehr intensive Befriedigung, wenn eine Aktion gelungen, ein schwieriger Pass angekommen oder eine gute Idee zu einem Tor gef\u00fchrt hat. Ich liebte das Spiel. Alles Momente des Gl\u00fccks, bei denen es mir bescheuerterweise wichtig war, dass sie auch dem Sohn zuteil werden. Also meldeten wir ihn beim \u00f6rtlichen Jugendfu\u00dfballverein an.<\/p>\n

Jasons erstes Spiel beinhaltete drei Ballber\u00fchrungen, sie verloren 0-4. Beim ersten Tor Gegentor schaut er den eigenen Torwart ver\u00e4chtlich an, beim zweiten sch\u00fcttelte er nur noch den Kopf und grinste ihn an. Beim dritten Tor sagte er ihm er w\u00e4re eine Flasche. Jason bekleidete anscheinend keine Position oder der Trainer hat ihn angewiesen immer konkret dahin zu laufen wo vor zehn Sekunden der Ball war. Ich kann nachvollziehen, dass es ihm keinen Spa\u00df machte. Und dann war ja auch immer noch diese Sache mit dem Kreis<\/a>. Ich habe ihn damals nach dem Spiel interviewt und ihm eine Aufzeichnung in eine Kiste gepackt in der ich die ein oder andere Erinnerung f\u00fcr ihn sammele. Er hat dieses Spiel schnell vergessen aber ich hoffe er freut sich irgendwann das Interview zu h\u00f6ren. Er wird herzhaft lachen.<\/p>\n

Wir mussten also fr\u00fch umschwenken – vom Fu\u00dfball spielen zum Fu\u00dfball schauen – und konzentrierten uns bekannterma\u00dfen<\/a> auf den Livesport im Stadion. Im TV schauen wir Fu\u00dfball selten und w\u00e4hrend alle anderen Jungs im Fu\u00dfballverein sind, bat mich Jason, keineswegs einen erneuten Versuch zu starten, ihn via Fu\u00dfballvereinssport mit KINDERN! \u201e in die Gesellschaft<\/a> zu integrieren\u201c. Es ist spannend, denn wenn er sich in einer Situation zu einer kontr\u00e4ren Position zur zu allgemeing\u00fcltigen, gesellschaftlichen Normen bewegt oder es zumindest so empfindet, dann zeigt es mir, wie vielen unn\u00f6tigen Drucksituationen wir ihn ausgesetzt haben.<\/p>\n

Er m\u00f6chte eben keine Gruppenarbeiten in der Schule machen und dass er es nun auch nicht mehr muss, ist nicht dem Durchsetzungswillen eines bockigen Zehnj\u00e4hrigen geschuldet, sondern er kann es wirklich nicht und wir bewegen uns dort auch in einem Bereich, wo es der Regelschule nicht m\u00f6glich ist, begleitende Ma\u00dfnahmen zu unterst\u00fctzen, die eine vollst\u00e4ndige Integration, sofern sie machbar ist, erm\u00f6glichen w\u00fcrden. Heute muss er in Deutsch ein M\u00e4rchen schreiben. Es wird wohl seine schlechteste Note in diesem Jahr werden. („Ich schreibe nichts \u00fcber so einen unrealistischen Mist). Er m\u00f6chte einen autobiographischen Text \u00fcber Galileo Galilei schreiben, der darlegt wie unrealistisch das M\u00e4rchen Sterntaler ist.<\/p>\n

Der Sohn zeigt momentan an allen Fronten klare Kante. Er hat seine pers\u00f6nlichen Bem\u00fchungen der letzten Jahre sachlich analysiert und ist zu dem Entschluss gekommen, dass er keinerlei Freunde haben m\u00f6chte. Zumindest keine im Kindesalter. \u201eKumpel so wie der Ralph <\/a>und der Sammy sind in Ordnung\u201c, sagte er neulich im Podcast<\/a>. Es ist schwierig f\u00fcr uns als Eltern, denn er vertritt seinen Standpunkt sachlich, logisch und mit einer Inbrunst und \u00dcberzeugungskraft, dass wir seinem Wunsch nachkommen m\u00f6chten. Auch auf die Gefahr hin, dass das tats\u00e4chliche Problem nicht der fehlende Wille zu einer freundschaftlichen Beziehung zu Kindern ist. Unsere Herangehensweise ist vielleicht aus p\u00e4dagogischer Sicht Unsinn und es w\u00e4re nicht das erste Mal, wenn Fachkr\u00e4fte f\u00fcr unser unkonventionelles Handeln nur ein m\u00fcdes L\u00e4cheln oder Unverst\u00e4ndnis aufbringen. Wir sind nicht nur gesetzlich dazu verpflichtet, einen erzieherischen Auftrag gegen\u00fcber unserem Sohn zu erf\u00fcllen. Die besten Erfahrungen haben wir allerdings damit gemacht, ihm Freiheit zu geben. Freiheit so zu sein, wie er ist. Das ist manchmal schmerzhaft f\u00fcr sein Umfeld, oft schmerzhaft f\u00fcr seine Mama und regelm\u00e4\u00dfig schmerzhaft f\u00fcr seine Schwester, aber es gibt ihm den R\u00fcckenwind die gro\u00dfen Ziele zu schaffen, die er sich setzt und nicht die Messlatten zu \u00fcberschreiten die Mama, Papa und die Gesellschaft ihm vor die Nase halten. Meine Frau und meine Eltern machen das gro\u00dfartig. W\u00e4hrend meine Eltern ihn immer mal wieder mit in den Urlaub nehmen, was f\u00fcr ihn wie ein Ventil zu wirken scheint, gibt ihm meine Frau im Alltag die Freiheit, die er braucht und schont sich selbst dabei wahrhaftig nicht. Je nachdem, in welcher Situation man ihn zu Hause \u00fcber uns herrschen h\u00f6rt, k\u00f6nnte man auch schnell andere Eindr\u00fccke dar\u00fcber gewinnen, wer daheim tats\u00e4chlich die Hosen anhat. Er ist konsequent, mutig, mittlerweile auch sehr aufgeschlossen, unfassbar ehrgeizig, clever, nervt\u00f6tend und es gibt nur wenige Menschen, mit denen man sich so gro\u00dfartig am\u00fcsieren kann. Er kann ein so ekelhaftes Scheusal sein, dass ich mich ob meines Vaterversagens sch\u00e4me und trotzdem muss man res\u00fcmieren, dass der aktuelle Stand fantastisch ist. Ich wei\u00df nicht mehr wo ich es erw\u00e4hnte, aber es ist die Achterbahnfahrt unseres Lebens mit dem intensiven Drang einfach mal zwei oder drei Runden gem\u00fctlich im Kinderkarussell zu sitzen.<\/p>\n

Meine Frau hat ein interdisziplin\u00e4res Treffen organisiert, in dem Jasons Therapeutin, seine Klassenlehrerin, Jason selbst und eben meine Frau die ersten Monate im Gymnasium haben Revue passieren lassen und konkrete Ma\u00dfnahmen zusammen festlegten. Ma\u00dfnahmen, an denen Jason aktiv mitwirkt, funktionieren un\u00fcberraschenderweise sehr gut. Verfahren wir \u00e4hnlich zu Hause im Rahmen unseres Regelwerks, passieren oft lustige Dinge, da auch wir im Umgang mit unserem Sohn erst Erfahrungen sammeln mussten.\u00a0<\/p>\n

Wie gesagt: Gemeinsam getroffene Vereinbarungen funktionieren gut und so stand der junge Mann mit zehn Jahren in der vergangenen Woche im Sozialkundeunterricht vor seinen gesamten Klassenkameraden und hat ihnen erkl\u00e4rt, dass er behindert ist, dass er Asperger-Autist ist und was ihm aufgrund dieser Tatsache Schwierigkeiten bereitet. Er hat nicht um Verst\u00e4ndnis gebeten oder konkret eingefordert, was seine Klassenkameraden zuk\u00fcnftig unterlassen sollen, er hat einfach n\u00fcchtern konstatiert, welche Situationen ihm unbehaglich sind, was er gar nicht mag, um aber dann nat\u00fcrlich auch ausf\u00fchrlich zu erkl\u00e4ren, was er alles geiles kann oder was ihm leichter f\u00e4llt. Das was er macht, wie er denkt, wie er handelt tut er nicht trotz oder wegen seines Autismus, er tut dies mit seinem Autismus und als er stolz schilderte, wie er mit offenem Visier seine Defizite all seinen Mitsch\u00fclern erkl\u00e4rt hat um mit dem Satz abzuschlie\u00dfen, dass derjenige ein Arschloch ist, wenn er oder sie das ausnutzt. Ich glaube, ich war nie stolzer auf meinen Sohn.<\/p>\n

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Wie Jason seinem Mitsch\u00fclern mitteilte, dass er Autist ist. Kennt ihr diese r\u00fchrselig-sch\u00f6nen und manchmal aber auch wirklich be\u00e4ngstigenden Stories von V\u00e4tern? Von V\u00e4tern, die versuchen, ihren Kindern liebevoll, verzweifelt oder unangebracht dr\u00e4ngend das zu g\u00f6nnen, was sie in der Kindheit an Erfahrung f\u00fcr wichtig erachteten. Vielleicht, weil sie der Meinung sind, dieses Kindheitserlebnis ist f\u00fcr die Entwicklung des eigenen Nachwuchses so essentiell, weil es bei einem selbst so pr\u00e4gend war oder zumindest intensiv haften geblieben ist. Oder es ist die frustbehaftete Retrospektive, was einem in der Kindheit alles so nicht geg\u00f6nnt wurde. Ich habe mein erstes Spiel als aktiver Fu\u00dfballer 13-0 verloren. Es war das erste Jahr E-Jugend, ich wurde mehrfach ein- und wieder ausgewechselt und wir trugen keinen R\u00fcckennummern. Vermutlich hat der Sponsor nicht gen\u00fcgend springen lassen. Es reichte nur f\u00fcr die wei\u00dfen Trikots mit schwarzen \u00c4rmeln. Den Namen des Sponsors hatte ich vergessen, aber ich erinnere mich, dass wir unsere Hosen und Stutzen selbst mitzubringen hatten. Die Farbdisziplin bei der Hosenwahl lie\u00df zu w\u00fcnschen \u00fcbrig. Ich trug immer eine blaue Hose, manche eine wei\u00dfe, einer sogar eine rote, aber die meisten trugen wie vom Trainer gew\u00fcnscht eine schwarze Hose. Aber alle trugen schwarze Schuhe. Es gab nicht …<\/p>\n","protected":false},"author":221,"featured_media":6671,"comment_status":"open","ping_status":"open","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":{"footnotes":""},"categories":[4331],"tags":[],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/2847"}],"collection":[{"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/users\/221"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=2847"}],"version-history":[{"count":0,"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/2847\/revisions"}],"wp:featuredmedia":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/media\/6671"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=2847"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=2847"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/wochenendrebell.de\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=2847"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}