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Wochenendrebellen

Groundhopping | Autismus | Wissenschaft | Podcast | Weltverbesserung

Fünfundzwanzigtausend Dank

Es ist vollbracht. Nach 12800 Zugkilometer hörten ca. 2200 Zuschauer unsere insgesamt 108 Stunden Lesungen, davon. ca. 46 Stunden Fragerunde. Die kürzeste Lesung fand vor 4 Zuschauern auf einem Marktplatz im Regen mit einer Dauer von 35 Minuten statt und sollte abgesagt werden, was Jason nicht akzeptierte. Die längste Lesung mit über 4 Stunden in ca. 100 Meter Höhe im Panoramaraum der Sportschule Wedau, die gemütlichste Lesung mit Wohnzimmer-Feeling und Pizzaduft im Fanprojekt Erfurt, Premierenlesung im Stadion am Bieberer Berg, Rasenduft beim Lesen nach Spielschluss in der Kurve beim SV Babelsberg, sehr berührendes Veranstalter-Feedback in Deutschlands schönster Fußballkneipe, dem Stadion an der Schleissheimer Straße und auch im Strobels am Westfalenstadion, unnötiger aber herausragender VIP-Service mit Malzbier und allem Drum und Dran in Berlin, im Haus der Fußballkulturen, Lesung mit Nachtwanderung durchs Stadion in Braunschweig, tränenlachende TV-Teams in Köln und in Fürth. Technik-Support, wie bei AC/DC in Hannover, Duisburg, Kassel und beim FSV Frankfurt. Wir lasen in historischen Gebäuden in Leipzig und Oldenburg und traten in einer picke-packe vollen Bahnhofshalle in Iserlohn-Letmathe auf. Ein auf vielen Ebenen irrsiniger Ritt, der mir aber auch Mut machte. Unglaublich wie viel Unterstützung man erhält, wenn man für eine gute Sache unterwegs ist.

Geplant waren ursprünglich drei oder vier Lesungen und auf den Veranstaltungen selbst erklärten wir zuletzt auch immer ein wenig, wie das alles mal wieder eskalierte. 2014 mussten Jason und ich erstmals über den Tod sprechen. Unangenehme und komplizierte Themen können mit Jason ganz hervorragend diskutiert und besprochen werden, sofern man damit umgehen kann, wie sachlich und nüchtern er sich mit Thematiken auseinandersetzen kann.

Er sorgte sich, wie das einmal sein wird, wenn Papa und Mama einmal nicht mehr da sein werden, doch es ging im Schwerpunkt um die auszufüllenden Funktionen, die er aktuell klar zugeteilt bei uns sieht. Da war keine Angst vor der Trauer spürbar seine Eltern nicht mehr da zu haben, sondern zunächst einmal der Wunsch nach Klärung, wer denn dann die Garderobe morgens auswählt und zurechtlegt und all die Dinge erledigt, die Jason nicht selbständig kann. Es ist immer wieder schwierig Menschen zu erklären, dass der junge Mann, der sich auf dem Weg in die physikalische Grundlagenforschung befindet, der mehrere Stunden frei vor Publikum über unsere Abenteuer referiert, der ganze Tage alleine in einer Stadt verbringen kann, nicht in der Lage ist sich morgens eine Hose alleine auszusuchen und an vielen Dingen des täglichen Alltags scheitert, die für einen Großteil der Menschen Banalitäten darstellen. „Der muss halt einfach mal……“, „Der stellt sich aber an…..“, „Er muss doch nur…..“ Alle Sätze, die so beginnen, enden mit Unsinn. Wenn Jason mir verspricht, dass er etwas nicht kann erübrigt sich jede Diskussion. Bei einer unsichtbaren Behinderung kann und muss ich da auf ihn vertrauen. Das ist für Außenstehende oft schwer nachvollziehbar, gleichzeitig würde aber nie jemand auf die Idee kommen einem blinden Menschen raten sich mehr anzustrengen um sehen zu können. Es ist schwierig, zumal unser Schwerpunkt im Buch und auch auf Lesungen nicht die Defizite sind, die Jasons Behinderung mit sich bringt.

Jason wurde rund um das Thema Tod erst recht sichtlich nervös als ich ihm der Illusion berauben musste, dass seine Schwester sich in Zukunft um all die funktionalen Lücken kümmern würde, die Mamas und Papas Ableben verursachen könnten.

„Wie soll ich in so einer chaotischen Welt denn alleine klarkommen?“

Ich bin mit Versprechen aus nachvollziehbaren Gründen vorsichtig geworden und doch bin ich sehr dankbar, dass Versprechen diesen fast schon heiligen Status in unserer Familie haben. Wenn Jason heimkommt und mir auf die rechte Hand verspricht, dass er heute in der Schule geschubst und mit Steinen beworfen wurde, dann muss ich an dieser Aussage nicht zweifeln. Ich weiß, dass er das zu 100% so wahrgenommen hat und wir können uns direkt um die Klärung kümmern. Manchmal kommt dabei raus, dass das Schubsen nur dem Läuten der Schulglocke und dem gleichzeitigen Gang zur Garderobe von 30 Schülern geschuldet war, aber es spielt keine Rolle, ob es absichtliches Schubsen war oder nicht. Das Problem, bei dem es keine Rolle spielt ob es ein Problem für andere ist, muss gelöst werden und ich weiß, dass es eines für Jason war, denn er hat mir die rechte Hand darauf gegeben.

Versprechen dienen aber nicht nur der Wahrheits- bzw. Wahrnehmungsfindung, sondern Sie können auch für sofortige Beruhigung einer drohenden Eskalation sorgen. Schrie Jason mich bis vor ein paar Jahren noch mit „Lös das Problem!“ an, wenn er vor einer Hürde oder einem Hindernis stand. Er weiß heute, dass ich ihm nur verspreche Probleme zu lösen, wenn ich garantieren kann, dass dies auch funktioniert. Jason war immens unruhig, wie eigentlich immer wenn Zukunftsszenarien aufploppten, aber nicht geklärt sind und so versprach ich ihm, dass es zwar noch einige Jahrzehnte Zeit dauert bis Mama und Papa einmal nicht mehr da sind, aber das bis dahin die Welt ganz sicher eine bessere ist.

Der globale Trend seit 2014 spricht gegen mich. Brexit, Trump, Italien, Ungarn, Österreich, Polen, Nordkorea, Brasilien, und dann haben wir noch nicht einmal vor der eigenen Haustür gekehrt. Das hat auch Jason bemerkt seit er sich auch mit politischen und gesellschaftlichen Themen intensiver auseinandersetzt.

„Wir können doch nicht die Welt besser machen.“- „Natürlich, wer denn sonst?“

Ich schlug ihm vor, dass wir die Welt besser machen könnten in dem wir auf den geplanten Lesungen um Spenden bitten auf die nächsten Tausend Euro aufrunden und mit dem Geld die Arbeit einer Organisation unterstützen, die die Welt nachweislich besser macht.

Jason war einverstanden. Wir suchten nach einer Organisation deren Arbeit, die Welt nachhaltig verbessert. Analog zum Buch wollten wir uns eher im Kontext Fußball, als im Bereich Autismus bewegen und so landeten wir natürlich sehr schnell bei der herausragenden Arbeit der Neven-Subotic Stiftung. Jason war zutiefst entsetzt, dass Menschen, besonders häufig Mädchen in seinem Alter und jünger, nicht in die Schule gehen können, weil sie mehrere Stunden am Tag mit der Wasserbesorgung beschäftigt sind und das täglich tausende Kinder an den Folgen des mangelnden Zugangs zu sauberem Wasser starben. Das war für ihn schlichtweg nicht zu begreifen. Er verstand nicht, wie das passieren konnte und warum nicht mit Hochdruck daran gearbeitet wird dieses Problem zu beseitigen.

Die ersten Lesungen vergingen und Jason zeigte sich unzufrieden über die Spendenhöhe. Wie es denn sein könnte, dass Tausende Menschen für Mario Barth Geld ausgeben, aber zu seinen Lesungen nur so wenige Menschen kommen und so verhältnismäßig wenig Spendengeld dalassen. Ich muss zugeben, dass mir bei diesem Beispiel ein wenig die Argumente fehlten, ich im Umkehrschluss aber auch überrascht war, dass zu einigen unserer Lesungen über 100 Menschen kamen und nur selten sich weniger als 60 Zuhörer die Zeit nahmen. Auch die Spendenhöhen nahm ich im Schnitt eher als beachtlich hoch wahr.

Ich habe mich von seinem Herzblut und Engagement ein wenig blenden lassen und deshalb überwog zunächst der Stolz die Verärgerung, als er ohne Rücksprache mit mir auf einer Lesung dem anwesenden Journalisten mitteilte, man wäre nun auf Lesereise bis man 10.000 € für die Finanzierung eines Brunnens beisammen hätte. In Anbetracht der Unkosten, die uns für eine Lesung entstanden, wir zahlten Anreise, Übernachtung selbst und verzichteten auf Honorare oder Aufwandsentschädigungen, vor allem aber auf Grund der Tatsache, dass diese Kosten auf den ersten Lesungen zumeist höher waren als die Spendensumme, eine durchaus heikle Zielsetzung. In Dortmund erhöhte Jason noch einmal auf 25.000 €, da er erfuhr, dass mit einem Brunnen alleine, ohne sanitäre Anlagen Mädchen noch immer nicht zur Schule gehen können. Wir verständigten uns im Anschluss, dass nach den Lesungen in den geplanten Städten für mich Feierabend ist und er sich selbständig um eine evtl. Schließung der Lücke bis zu den 25.000 € kümmern muss. Er stimmte zu und macht sich seitdem eine Menge Gedanken und ist fleissig.

Nun sitze ich hier und der Kontostand unseres Spendenkontos bei der Neven Subotic Stiftung zeigt 25.591,57 € an. Wir haben es tatsächlich geschafft. Jason hat wieder einmal mehr Recht behalten. Als wir für den Grimme Online Award nominiert wurden, nervte er mich regelmäßig Wochen vor der Veranstaltung, wer denn von uns beiden die Siegerrede auf der Bühne halten würde. All mein Einreden auf ihn, all meine Versuche die Erwartungshaltung runter zu schrauben half nichts. Er hatte keinerlei Zweifel, dass wir dort gewinnen und er behielt Recht. Als er eine zwanzigtägige Zugreise durch Osteuropa plante und zehn verschiedene Länder bereisen wollte, dämpfte ich seine Erwartungen um körperlich etwas ausgelaugt aber mit zehn Länderpunkten im Gepäck am 20.Reisetag wieder zurückzukehren.

Im Sommer 2018 übermittelte er mir die Termine für die verschiedenen Etappenwettbewerbe von „Jugend forscht-Schüler experimentieren.“ Mit der Information, dass wir zu diesen Terminen keine Lesungen durchführen können, denn wenn die Jury sein Projekt versteht, dann würde er ohne jeden Zweifel alles gewinnen, was es zu gewinnen gibt. Ich lachte. Zumindest bis zu dem Tag, wo ich die Lesung in Rostock und Düsseldorf verschieben musste und mir der Leiter der Forschungseinrichtung auf dem Landeswettbewerb mitteilte, dass Jason sowieso gewinnen würde, wenn die Jury sein Projekt versteht und das er es gut findet, dass wir Jason für das Austauschprojekt mit dem Forschungszentrum in Peking angemeldet haben. Wir hatten ihn nicht angemeldet. Dies hat er selbst getan. Jason überrascht mich, er fordert mich, er bringt mich zur Weissglut und er hat eine erdende und gleichzeitig motivierende Wirkung, aber ich kann auch sehr gut verstehen, wenn man unser Handeln nicht immer nachvollziehen kann.

Als im vergangenem Jahr Jens W. von der Volksbewegung Niedersachsen, ehemals Freundeskreis Thüringen über einen Zeitungsartikel auf uns aufmerksam wurde, sich über eines unserer Shirts auf den Bildern echauffierte und unsere Bilder und Kontaktdaten in braunen Kreisen teilte, war Jason derjenige, der am coolsten blieb und hartnäckig einforderte sich keinesfalls einschüchtern zu lassen. Da kann man als Vater schon auch mal am eigenen Verantwortungsbewusstsein zweifeln. Hab ich auch. Sehr sogar. Niemals zuvor haben wir so viel „Feedback“ erhalten, wie in diesen folgenden doch sehr belastenden Tagen.

„Wie Jason wohl ohne Papa klarkommen wird?“

„Eine Endlösung für Autisten. Das fehlt.“

„Ihr seid fällig. Veranstaltungstermine.Wie praktisch.“

„Dich und deine kleine Familie zu finden wird ein Kinderspiel. Alles weitere auch.“

Wir besprachen sehr sachlich, wie wir damit umgehen, klar war aber auch, dass ein Rückzug, Schweigen und weniger oder kein Engagement mehr, genau den Zweck erfüllt, den Nazis erreichen wollten. Sie wollen Angst verbreiten, was Ihnen auch gelang, aber diese Angst soll auch destruktiv wirken, sie soll lähmen, einschüchtern und Engagement und positive Bewegungen verhindern. Dies gelang Ihnen nicht. Auch weil Jason hartnäckig ein positives Ende unserer Lesereise einforderte und er verdammt überzeugend sein kann.

„Hast du keine Angst?“, fragte ich ihn.

„Natürlich habe ich Angst, aber noch mehr Angst habe ich, dass ich nie wieder schlafen kann, wenn wir jetzt einfach aufhören, weil uns irgendwelche rechten Arschlöcher drohen.“

Wir hatten uns als multikulturelle Familie sowieso schon der aktiven Beteiligung an einem Umvolkungsprozess schuldig gemacht, so dass fortan ein Appell an alle den Arsch aus der Wohlfühlzone zu wuchten und sich noch stärker mit anständigen Menschen zu solidarisieren, betroffene Menschen aktiver zu schützen, die Augen offen halten und das Maul aufzumachen, den Abschluss unserer Lesungen darstellte.

Und nun geht es erst einmal weiter. Düsseldorf, Tirol, Bünde, Karlsruhe, Hannover und Plüderhausen stehen noch für Lesungen an. Wie man sieht gehts jetzt auch in die Metropolen. Eine Abschlusslesung soll es auch noch geben und evtl. noch einen Livestream-Lesung, die wir an eine Firma gegen Spende verkaufen. Jason hat für die Abschlusslesung sehr konkrete Vorstellungen und erwartet u.a. mindestens ZSK als Pausengast, damit sie „Herz für die Sache“ spielen, ökologische Pyrotechnik, der vier Stunden Rekord soll gebrochen werden und es sollen mehr Zuhörer kommen als Mario Barth je Gäste hatte. Ich werde mich hüten komplett alles als Unsinn abzutun und freue mich, wenn er auch bei unseren nächsten Projekten grinsend vor mir steht und sagt: „Siehst du, wir können alles schaffen.“

In aufrichtig tiefer Dankbarkeit allen Spendern und Lesereise-Unterstützern gegenüber.

Wir halten euch auf dem Laufenden.

P.S. Auf der Lesereise haben wir auch ein sechs-minütiges Video aus den letzten Jahren unserer Stadionabenteuer-Tour gezeigt. Hier nun auch via Youtube.

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6 Comments

  • Daniel
    Daniel

    Toller Text und tolles Video.
    Danke für eure Geschichte!
    Danke das man euch begleiten darf!

    Viele Grüße
    Daniel

    Antworten
  • Birgit
    Birgit

    Wow, wow, wow.????ich habe nicht eine Sekunde daran gezweifelt, dass ihr das in Dortmund neu gesetzte Ziel, das Geld für ein ganzes WASH Projekt zusammen zu bekommen, erreicht.
    Das freut mich tierisch und ich setze alles daran, in Düsseldorf dabei zu sein und euch HALLO zu sagen.
    ????????????.

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    • wochenendrebell

      Hey, das würde mich sehr freuen. Ich dachte wir schaffen es zu einem der Konzerte, aber das wird wohl leider nichts. Oder du greifst nach den 100.000 €. 😉

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  • wochenendrebell

    Same here. Nicht nur „leichte“. 😉 Danke!

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  • davednb

    Freut mich (als langjährigen Leser und stiller Supporter) – sowohl die generelle, sichtbare Entwicklung als auch das Erreichen der magischen Grenze (hatte da meine leichten Zweifel ;-))

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