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Krieg im Kopf

Krieg im Kopf

Krieg im Kopf. So beschrieb mir Jason einst, wie es sich anfühlt, wenn die Gedanken rasen und er auf Grund von ungeklärten Situationen nicht zur Ruhe kommt, nicht schlafen kann und Angst bekommt, weil er befürchtet die Gedankenraserei nimmt kein Ende. Die Ursache der Problematik zu ergründen ist zumeist ein länger andauernder Prozess, der dann aber auch dazu führen kann, dass man in die Lage gerät ein Problem in seiner Ursache zu bekämpfen oder, wie es häufiger bei uns der Fall ist, smart oder eher außergewöhnlich zu lösen. Sei es durch Vermeidung oder durch Verschiebung des eigenen Blickwinkels, durch Schaffen eines neuen Paradigmas, welches nicht egoistisch die eigenen Werte und Prinzipien und noch weniger irgendwelche, selbst für mich mittlerweile abstrus wirkenden gesellschaftlichen Normen, in den Vordergrund stellt, sondern die des Gegenübers. Das lernte ich auf einem Festival und das kam so.

Erwachsene Männer im Ballettkostüm, weibliche Sparkassenauszubildende, die sich mit Edding „Bitch to fuck“ auf die Stirn schreiben, BWL Studenten im Ganzkörperkondom, leitende Angestellte, die sich aus dem Pappkarton einer Palette Dosen-Veltins einen Hut gebaut haben und diesen gemeinsam mit Ihrem neongrünen Borat-String stolz zur Schau tragen und natürlich all die normalen Menschen, die einfach nur das Bedürfnis haben sich mehrmals täglich unter Zuhilfenahme einen Schlauchs und eines Trichters innerhalb von Sekunden ein halbes Literchen des lokalen Karlsquell-Mitbewerbers in den Körper zu pressen.

Man sollte ein überdurchschnittliches Maß an Toleranz auf Veranstaltungen erwarten dürfen, wo Herr Huber und Frau Schmidt Ihre Alltagssorgen vergessen und nach einer Palette Schädelbräu dem Drang nachgeben sich mit einem Kleid aus Panzertape oder einem Plastikmüllsackanzug vollends zum Obst zu machen. Toleranz war uns am ersten Tag nicht vergönnt, aber das war eventuell auch gut so.

Sohn hatte intensiv Youtube Videos studiert um mir dann sein gewünschtes Lineup zu präsentieren, welche Bands wir uns auf dem Serengeti-Festival anzuschauen haben. Ganz weit vorne bei Ihm eine Band, dessen Name mich hätte ahnen lassen müssen, was uns erwartet. Sohn wollte in Reihe eins. Dies war sein großer Wunsch für dieses Festival, den ich Ihm dementsprechend erfüllen wollte und der sich bei einer Kombo, die nachmittags spielt wohl einfacher erfüllen lässt als heute Abend bei Skunk Anansie, morgen bei den Broilers oder am Sonntag bei Seeed.

Die Eroberung eines Platzes an der vordersten Absperrung gelang leicht, was vielleicht auch daran lag, dass ich erstmals bei einer Band stand, deren Anhänger bezüglich ihres Alters in der Masse näher beim Sohn (8) als bei mir (36) lagen. Ein paar Sekunden dominierte tatsächlich dieses unbehagliche Gefühl, nicht wegen des kleinen Mannes angestarrt zu werden, sondern in Anbetracht meines eigenen Alters hier abfällige Blicke zu ernten. Als die Eskimo Callboys mit Wasserbällen und Spritzpistolen die Bühne eroberten, befürchtete ich musikalisch erniedrigendes Niveau und wurde nicht enttäuscht.

Mallorquinischer Mickie Metal statt Krause Möchtegern Melodycore Mumpitz aus Castrop-Rauxel, welcher die Teens um mich herum aber zu einem beeindruckenden Moshpit motivierte. Sohn war schnell auf der Schulter platziert, was aber, dem einzigen weiteren Herren mit einer Körpergröße über 1,80 m, einem hoch motivierten Security Mitarbeiter, anscheinend nicht gefiel. Todesmutig stürzte er sich gulliveresk durch die Kindermenge um mir irgendetwas undeutliches, aber sehr nasses ins Gesicht zu bölken. Da er mich sanft schob, bin ich davon ausgegangen, er wolle uns vor der schon nach wenigen Minuten unerträglich gewordenen Musik schützen und gehorchte. Wir stellten uns seitlich der Bühne, was dem Herrgott des Festivalgeländes immer noch missfiel.

Er deutete auf die Ohren des Sohnes, die zwar mit Qualitätsohrstöpseln geschützt waren, aber das abwechselnde zeigen auf Boxen (vor denen wir nun standen) und Sohn, deutete ich wohl nicht richtig, denn der außerordentlich aktive Security Posten schob mich , nun auch etwas ruppiger weiter von den Boxen weg, so dass selbst von meinen Schultern aus die Band nun nicht mehr zu sehen war. Wir betrachteten nun die wunderschöne Seitenverkleidung großer Boxen.

Ich deutete ihm, leicht genervt und vielleicht etwas zu provokativ eine versiffte Ecke im Zelt an und nickte fragend mit dem Finger in die Richtung zeigend ob wir uns dort platzieren sollten. Er schob mich ein weiteres Stück und wir landeten außerhalb des Schallbereichs wo der König der Rummelplätze dann deutlicher wurde. Nicht so deutlich, dass ich wortwörtlich verstehen konnte, was er mir mitzuteilen gedachte, aber genug um die Brocken „ asozial“ , „Arschloch“,  „Gesocks“, „keine Kinder in die Welt“ setzen aufzuschnappen. Ich nickte, lächelte und bedankte mich. Buddha wäre mittlerweile ein Choleriker gegen mich.

Mir kann man mit Alltagsproblemen nichts mehr anhaben. Wäre ich eine Superhelden Figur wäre ich Gefühllos-Man, oder Icecold-Man, oder Jucktmichallesnicht-Man. Mein Kryptonit saß allerdings auch auf meiner Schulter. Beeinflusst den Sohn etwas negativ räume ich es beiseite. Auch Aufbaupräparatverschlingende Muskelabsurditäten wie Stallones Double hier müssen dann weichen.

Der gute Mann hatte mich aber auf eine Gefahr aufmerksam gemacht, der ich mir nicht bewusst war. Hätte ich vorher gewusst, dass Sohn später keine Kinder mehr in die Welt setzen kann, nur weil er sich einmal in die Nähe eines Eskimo Callboys Circle Pits gewagt hat, hätten wir die Band sausen lassen, oder hätten uns direkt fortpflanzungsfreundlicher platziert.

Trotzdem. Der Chief Security Officer hat einen guten Job gemacht und mein Verhalten war wieder einmal grenzwertig, wenn nicht sogar darüber hinaus. Aber die Euphorie war eben groß. Sohn hatte vorher begeistert dem mir ebenfalls völlig unbekannten George Wattsky gelauscht und war schwerbegeistert wippend und klatschend in Ekstase geraten. Musik ist ein gigantisch guter Emotionen-Transporter.

Auch für mich selbst teile ich Musik eigentlich nur in zwei Kategorien. Genreunabhängig und auch innerhalb der einzelnen Stiluntergliederungen gibt es Musik, die ich so nebenbei höre und Musik, in die ich mich vollends fallen lasse und der ich bewusst aufmerksam zuhöre. Dies katapultierte mich schon diverse Male in andere Sphären, wo ich tagtraumähnlich entweder dem Text des Künstlers erlag oder auch einfach einer Melodie zum Opfer fiel.

Erstmals erlebte ich dies bei der von Apocalyptica gecoverten Version von Metallicas „Nothing else matters“, wo ich schon nach wenigen Sekunden auf einer der Cellosaiten durch diverse Wolkengebilde surfte und jede einzelne Vibration des Instruments wie eine wohltuende Massage wirkte. Momente völliger Abwesenheit, frei jeglicher Form von Ablenkung und mit unverrückbarem Fokus auf den jetzigen Augenblick. Tolles Gefühl, welches sich leider nie auf Knopfdruck entstehen lässt.

Ich wollte auch dem Sohn etwas davon geben. Mehr Möglichkeit zur Ausgelassenheit. Mehr Freude. Mehr Rausch. Mehr Glückseligkeit. Mehr Schwerelosigkeit. Mehr Vergessen. Mehr Genuss. Mehr Surfen. Trotzdem muss ich mich lernen zu zügeln und wenigstens aufs äußerste Maß der Grauzone verschobene Grenzen zu tolerieren. Es wurde anstrengender.

Sohn begann sich nun auch für die Botschaft der Künstler zu interessieren. Mr.Watsky sei Dank wollte er nun bei jedem Song auch wissen, worum es in dem Lied geht. Dies gestaltete sich in Anbetracht meines grottenschlechten Englischs nicht immer einfach, so dass ich teilweise Themen anhand des Titels erfand, ihn bat dies später ergoogeln zu dürfen oder ihm nur den Namen des Songs verriet und er sich seinen Teil denken konnte, wenn er denn wollte. Dies sollte insbesondere in Verbindung mit der Band, der Papsi an diesem Tag entgegen fieberte, noch zu völlig neuen Erkenntnissen führen.

Insgesamt war es  spannend, die Entwicklung des Sohnes vom ersten Festival vor zwei Jahren bis zum Heutigen zu beobachten. Galt damals noch sein Hauptaugenmerk dem Papa, um dessen Verhalten zu hinterfragen, zu adaptieren oder auch einfach zu genießen, so war Papsi nun eher Mittel zum Zweck. Ich diente als Textdolmetscher, wandelndes Musik-Lexikon und als Schultertransport-Fortbewegungsmittel. Sehr wenig Gespräche und wenn dann nur Aufträge, Befehle oder Fragen beherrschten den ersten Festivaltag bis zum abendlichen Auftritt der Jungs von Suicidal Tendencies.

Ich kann gar nicht recht sagen, warum ich mich auf die Jungs so freute. Sie gehören nicht einmal in die Top 20 meiner Lieblingsbands, aber irgendwie war es dann doch eine dieser Bands, bei denen ich froh war sie dem Sohn noch präsentieren zu dürfen. Der Auftritt verlief, wie ein klassischer Auftritt der kalifornischen Hardcoretruppe so verläuft.

Mike Muir, Sänger und das letzte verbliebene Gründungsmitglied der Band bearbeitet seine Bühnen, gerne in voller Breite. Sein Outfit bestehend aus Basketballtrikot und blauem Bandana ist seit über einem Jahrzehnt unverändert und könnte auch einer der NTV Reportagen über mexikanische Gangs in amerikanischen Gefängnissen entsprungen sein. Man muss die Musik schon sehr mögen, wenn er relativ tumb über den gesamten Gig hinweg, wie ein räudiger Hund die Bühne von rechts nach links und wieder zurück fegt und seine Gedanken ins Mikro rotzt. Sohn gefiel es. Weniger wegen der Musik, aber die Circle  und Moshing Pits, die er von seiner Position aus bestens begutachten konnte, gefielen ihm gut.

Das komplette restliche Festival war er schlimmer zu hüten als ein Sack Flöhe. Er wollte in diese „Menschenwirbel“, ohne zu ahnen, dass sie dort vermutlich Hackfleisch aus ihm machen würden. Ich versuchte ihm dies zu erklären, aber seine Selbsteinschätzung („Ich bin der größte, schwerste, stärkste Mensch auf der Welt“) , scheint ihn manchmal wirklich daran zu hindern, Gefahren angemessen einzuschätzen und heiklen Situationen respektvoll entgegen zu treten. Für das restliche Festival hatte ich nun also die Wahl. Den Sohn auf den Schultern schleppend oder dem Sohn hinterher rennend Freude zu bereiten. Ich entschied mich zunächst für die unhektischere Variante während Cyco Miko, wie sich Mike gerne nennen lässt, einen seiner wohl bekanntesten Songs ankündigte.

War inside my head“

Sohns obligatorische Frage zu Beginn des Songs würdigte ich in Anbetracht der ersten körperlichen Verschleißerscheinungen mit einer knappen Antwort: „Der hat Krieg in seinem Kopf“.

Ich war körperlich platt. Sohnemann wog sicherlich gute 25 Kilogramm und sein Wippen, hüpfen, für Fragen runterbeugen, meinen Kopf zum Nicken bringen, mir die Sporen geben, strengte nicht nur in Anbetracht der 30 Grad an. Die Krieg-Antwort hat ihn allerdings verstummen lassen und er rührte sich kaum. „Alles o.k. da oben?“ „Ja, ich habe Durst“

Wir pausierten und gönnten uns für je schlappe 4 € eine Orangenlimonade im hinteren Bereich des Eins Live Zeltes, wo neben einem Autoscooter auch ein paar Bänke aufgestellt wurden. „Papsi, es ist ganz schön warm da oben bei Dir“ „Verzeih, ich werde mir demnächst einen Sonnenschirm ans Ohr tackern, damit du ein wenig Schatten genießen kannst.“ Solche Antworten bereiten ihm keine Angst mehr. Auch dies habe ich auf unseren Abenteuern mittlerweile lernen müssen. Wir erkenne ich an seinem Blick ob er nun vielleicht Sorge hat, dass ich ihm etwas ans Ohr tackern muss? Seine Reaktion lies sich eindeutig lesen.

Ich liebe sein verschmitztes Grinsen, auch wenn ich nicht immer sofort weiß ob er sich jetzt darüber freut,  dass Papsi was lustiges gesagt hat oder ob er glücklich ist, beim nächsten Mal auf meinen Schultern im Schatten zu sitzen.

„Papsi, ich habe auch manchmal Krieg in meinem Kopf – Bin ich jetzt ein Star?“ Ich war froh meine Limonade schon getrunken zu haben, sonst wäre mir erstmals Flüssigkeit im Halse stecken geblieben oder ich hätte mich zumindest hart verschluckt.  „Wie meinst du das?“

„Na, wegen meiner besonderen Logik. Mit der „besonderen Logik“ erklären und begründen wir dem Sohn gegenüber einzelne Symptome seines Autismus ohne immer sicher sein zu können ob das mit seinem Autismus tatsächlich etwas zu tun hat.

„Manchmal sind da so viele Gedanken in meinem Kopf. Die kämpfen auch miteinander und ich kann die nicht steuern. Wie kann ich die denn rausschmeißen?“

Was für Gedanken sind das denn?“

„Das weiß ich nicht. Immer wenn ich mir einen anschauen will sausen ein paar andere durchs Bild. Das nervt und mein Kopf ist voll“

„Schatz, vielleicht sind das schöne Gedanken, die sich nur einen besseren Platz suchen“

„Papsi, die nerven. Das ist unangenehm. Meine Ausraster und die zu vielen Sachen in meinem Kopf. Die will ich loswerden-Alles andere ist super“

„Gib mir ein wenig Zeit. Ich werde eine Lösung finden“

„Bin ich jetzt ein Star oder nicht?“ „Du bist ein Star. Aber nicht weil du zu viele Gedanken im Kopf hast, sondern weil du ein toller Kerl bist“

Serengeti-Festival, 21:30 Uhr, Tag eins, der erste Headliner hat noch nicht einmal angefangen und Papsi ist nicht mehr nur körperlich fertig mit der Welt.

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10 Comments

  • Stefan
    Stefan

    OK, da du mich angementonied hast, habe ich den Artikel jetzt doch mal gelesen, auch wenn er in meinem Feedreader noch gar nicht dran gewesen wäre, denn der sortiert tageweise ein, und ich bin halt erst bei Mitte Juli angelangt… ;o)

    Ja, „War inside the head“ ist bekannt, wenngleich ich es nicht so bezeichnen würde.

    Wirkt sich dann bei mir aus, wenn es gilt, „unwichtiges“ von „wichtigem“ zu trennen, um zuerst das wichtige zu erledigen. Beziehungsweise erledigen zu können. Mehr oder weniger.
    Neulich musste ich einen Brief schreiben, das ging aber zunächst nicht, denn mir fehlte eine Briefmarke, um den Brief auch abschicken zu können. Durch das fehlen der Briefmarke fiel es mir relativ schwer, den Brief zu formulieren, denn ich wusste ja zu dem Zeitpunkt, als ich ihn schrieb noch gar nicht, wann ich ihn würde abschicken können, ob also die Erlebnisse, über die ich da schrieb beim letztlichen absenden des Briefes dann schon waren oder eben noch kommen würden. Denn für das absenden müsste ich ja erst einmal zum Postamt, um die Briefmarke zu besorgen- und so wusste ich nicht, ob ich ihn in der Vergangenheits-, Gegenwarts-, oder gar der Zukunftsform schreiben sollte- was _defakto_ komplett egal war, weil es darauf überhaupt nicht ankam (jedenfalls nicht beim Empfänger des Briefes, denn zu dem Zeitpunkt wäre das geschriebene dann ohnehin in der Vergangenheit geschehen), aber mich eben über Stunden beschäftigte, weil die Gedanken im Kopf kreisten, und ich überlegte, wie ich die Sätze formulieren kann, dass sie „zeitlos“ werden. Ähm. Hach, mal wieder ein wunderschöner Schachtelsatz…

    Sprich: Das mit dem ausblenden der „unwichtigen“ Gedanken klappt halt nicht so wirklich, sie bleiben immer im Kopf und kommen immer wieder in den Vordergrund, während man über alle Eventualitäten nachdenkt und den nächsten Schritt aka Satz möglichst genau vorabplant. Und das ist in der Tat auch störend, weil man sich des Umstandes, dass man sich da über „ungelegte Eier“ Gedanken macht und alles durchplant, durchaus bewusst ist, insbesondere auch dahingehend, dass man ziemlich genau weiß, dass doch wieder etwas dazwischenkommen kann, was man auch bei noch längerem Nachdenken nicht vorab durchdacht hat. Das ist eine Unsicherheit, und Unsicherheiten nerven, und drängen sich in den Gedanken immer wieder in den Vordergrund. Habe ich passendes Kleingeld für den Briefmarkenautomaten? Ist der da überhaupt noch, oder muss ich doch zu einem anderen Postamt? Was ist, wenn der Automat defekt ist? Gibt es andere Geschäfte, wo ich meine 55 Cent – Marke kaufen kann? Wo ist das nächste Postamt? Und falls die Straße dahin durch einen Unfall oder so gesperrt sein sollte, wie komme ich dann auf möglichst angenehmem Wege trotzdem zum Postamt? Und welches sind angenehme Wege? Schattige Wege? Wege, die schräg von der Elbe wegführen, also ein wenig Windbewegung versprechen? Mal google maps checken, am besten gleich in Streetview, damit ich weiß, wie es da vorort aussieht? Wo ist der Eingang zum nächsten Hinterhof, in den ich mich gegebenfalls zurückziehen kann, wenn mir der Autolärm zu laut, die Abgase zu stinkend oder die Sonne zu warm werden? Wann wird denn eigentlich der Briefkasten beim Postamt geleert? Passt das zeitlich mit dem Briefmarkenkauf zusammen? Wie genau ist die minutengenau angegebene Leerungszeit wirklich angegeben, kommt es vor, dass die Leerung des Kastens mal früher erfolgt (was schlimmer wie später wäre, denn dann ist mein Brief ja nicht dabei), und wo ist ggbf. der nächste Briefkasten mit einer späteren Leerung, den ich dann noch rechtzeitig zu Fuss erreichen könnte, damit mein Brief trotzdem am geplanten Tag sein Ziel erreicht? Werden Briefe, die man am Schalter abgibt, häufiger von der Post abgeholt wie die im davor stehenden Briefkasten?

    Das sind die Dinge, die mir beim Schreiben eines Briefes durch den Kopf gehen, die immer wieder in den Vordergrund strömen und das eigentliche Schreiben des Briefes, wenn schon nicht verhindern, dann doch an „schlechten Tagen“ ziemlich in die Länge ziehen können.
    Einfach nur einen Brief an meine Tante schreiben, mit dem dann zur Post gehen, Briefmarke kaufen und den Brief dann einwerfen? Vergiss es, das wäre die Vorgehensweise und Denkweise eines neurotypischen Menschen… viel zu ungeplant, viel zu viele Eventualitäten, die alle bedacht werden müssen, damit es wie geplant funktioniert. Damit der Brief dann wirklich am Mittwoch bei der Tante ankommt. Obwohl sie sich vielleicht genauso über ihn freuen würde, wenn er Dienstag oder Donnerstag ankommt, aber ich habe ihr ja vorher am Telefon gesagt, dass sie am Mittwoch einen Brief von mir erhalten wird…
    Hach.

    Einschätzen von Gefahrern? Ja, auch noch so ein Punkt. Ich erinnere mich an eine Demo, wo ich wutschnaubend auf einen Polizisten zutrabte, der bereits sein Pfefferspray hochhielt und den Einsatz androhte. Das sah ich in dem Moment aber nicht, weil ich nur sah, dass er seinen Knüppel gerade weggesteckt hatte. Das er das nur tat, um das Pfefferspray einsetzen zu können, sah ich dann erst auf einem späteren youtubevideo. Da sah ich dann auch, dass ich der einzige war, der da so nach vorne getrabt war, um den Polizisten die Meinung über die Straßensperre zu geigen, die er scheinbar aber nicht wirklich hören wollte. Später fragte man mich, was mich denn geritten hätte, da wie ein wilder nach vorne ins Pfefferspray zu laufen, während alle anderen nur darauf bedacht waren, davon weg zu kommen, was ich wohl, de späteren Erzählungen folgend dann damit erklärte, dass mich nichts geritten hätte, denn im Gegensatz zur Polizei hätte ich ja auch kein Pferd… von dieser Feststellung weiß ich aber auch nur aus einer Erzählung, ich selbst war da irgendwie mit Tunnelblick ausgestattet. Auch ohne Tunnel vor den Augen, lol.

    Das du dich mehr als Mittel zum Zweck fühltest, ist aber „normal“. Während meiner Schulzeit wohnte einer meiner Klassenkameraden direkt über mir. Mehrfach versuchten meine und dem seine Eltern uns miteinander zu „verkuppeln“, dass wir doch auch mal außerhalb der Schulzeit was miteinander unternehmen sollten, aber er umgab mich doch schon den ganzen Schultag lang, warum sollte ich dann mit dem auch noch den Nachmittag verbringen?
    Und das eine Mal, wo er dann doch mal zu mir runtergeschickt wurde, um „mit mir zu spielen“ gestaltete sich dann so, dass ich mit seinem Gameboy spielte… aber eben nicht auf die Idee kam, mit ihm gemeinsam etwas zu spielen. Muss für meine Eltern und auch ihm eigenartig gewirkt haben, wie er (auf Treiben der Eltern) zu mir runter kam, dann aber von mir mehr oder weniger ignoriert wurde- jedenfalls fast, denn wieder hochgehen sollte er ja auch nicht, denn dann wäre ja auch der Gameboy wieder weg gewesen. Hauptsache, ich konnte in Ruhe mit seinem Gameboy spielen. Blieb dann aber auch bei diesem einen „Spielbesuch“, ich glaube, er konnte seinen Eltern irgendwie erklären, dass er sich etwas fehl am Platze fühlte oder so. :o)
    Und auch heute sind die _meisten_ „Freundschaften“ mehr „Zweckgemeinschaften“, die halt einem bestimmten Zweck verfolgen. Fällt dieser Zweck aus irgendeinem Grund weg, ist meist auch die „Freundschaft“ recht schnell beendet, weil ich nicht so recht weiß, warum man sich denn noch treffen sollte, wenn es doch gar nichts mehr gibt, was wir beide zusammen machen könnten… Nur mit relativ wenigen Personen treffe ich mich auch „nur mal so“, ohne das mein Besuch irgendeinen Zweck erfüllt, halt so, wie es scheinbar von neurotypischen erwartet wird, die sich irgendwie laufend ohne irgendeinen Zweck zu treffen scheinen, nur um sich zu treffen. :o) Stört mich aber nicht wirklich…

    Insofern gewöhn dich daran, dass du deinen Sohn gerne begleiten darfst, um ihn Getränke zu reichen und ihm Dinge zu übersetzen. 😉 Na gut, bei den eigenen Eltern ist das nochmal was ganz anderes, aber die Erfordernis, dass er später bspw. mit Arbeitskollegen zu einem Festival geht, wird sich ihm nicht so wirklich vermitteln, denn die sieht er ja ohnehin schon den ganzen Tag, das reicht dann auch, und außerdem sind das halt Arbeitskollegen und nicht die Leute, mit denen man die Freizeit verbringt. Jedenfalls wird das so sein, wenn dein Sohn in dieser Hinsicht wie ich tickt, was er dir aber in 8 Jahren dann sicherlich erklären wird, wenn sich einige seiner Klassenkameraden in Cliquen oder anderen Peergruppen zusammenschließen, dass ihn das nichts ausmacht, wenn er seine Arbeitskollegen nur auf der Arbeit um sich haben wird. Auch wenn er sie ansonsten ganz nett finden mag. 😉 *grins*

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    • Anita
      Anita

      Du hast prima erklärt, warum mein Schreibtisch so aussieht, wie er aussieht. 😉

      Dieses Gedankenkreiseln, tagelange Vorbereitung um etwas zu erledigen und dann kommt ein Anruf, ein Schattenspiel oder sonstwas dazwischen. Das Wissen, dass die Arbeit auf dem Schreibtisch Stunden dauert, aber man in 2 Stunden weg muss, man den Unerledigten „Haufen“ dann nicht liegen lassen „kann“ (Besser einfach was auf den bestehenden Haufen oben drauf legen) und ob man genug Ordner, Umschläge etc. hat …………………… die Liste ist endlos.

      Und NEIN, es ist nicht „galoppierende“ Faulheit, der Arbeitsspeicher ist zu voll! DAS habe ich aber erst erkannt, seit meine Söhne es mir erklärt haben.

      Mir wurde von den Therapeuten meines Großen mal gesagt, ich „müsste“ NT sein, weil ich intuitiv handeln würde. Was bei Ihnen als Intuition ankommt, ist lange und wohl überlegt! Oft mit anderen (meist Betroffenen) abgeglichen oder folgt einem mehrfach erfolgreich getesteten Muster. Was solche intuitiven Aktionen in anderen Bereichen aber für Folgen haben, können sie leider NICHT erkennen. Das diese Dinge mich um Tage, Wochen und Monate zurückschmeißen kommuniziere ich ihnen ja nicht.

      Zu Treffen mit Freunden, für mich kann ich ganz klar sagen, dass sie immer einem Zweck folgen. Und sei es nur der Zweck, sich über ein interessantes Buch mit einem „gleichgepolten“ Menschen zu unterhalten. Reiner Smalltalk findet nicht wirklich statt. Falls Freunde oder Bekannte es versuchen, „leite“ ich schnell das Gespräch wieder in eine Richtung, die für mich von Wert ist.

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  • Anto
    Anto

    Wie gerne man doch den Krieg im Kopf beenden würde. Ich bin mir sicher du trägst dein nur irgendwie Mögliches zu bei !!!

    Antworten
  • Anita
    Anita

    großes Kompliment an Deinen Sohn, dass er es so beschreiben kann!

    Zwar wird es Dir noch einige „Kopfschmerzen“ bereiten, über der Lösung zu „brüten“, wie man die Gedanken besser sortieren „könnte“;

    ABER

    es ist nun zumindest für Dich bildlich verständlich geworden!

    Mein Zwerg hat schon mal sowas gesagt: „wichtige Informationen verstecken sich ganz hinten im Kopf und lassen sich nicht so leicht wieder finden (es ging um ein Verbot), ich muss das erst mal suchen und vorne ablegen!“

    Mein Staunen kannst Du Dir bestimmt vorstellen. Da war der Zwerg gerade 5 Jahre alt geworden. Er hat sich selber wie einen Computer erkannt. Unser Großer spricht davon, sich zu reorganisieren.

    Beide Söhne sind Asperger. Und seit ich es annehmen kann, dass sie so denken, mich nicht mehr verunsichern lasse durch Sprüche wie „das sind doch nur Provokationen, kein Mensch denkt so“, geht es mir erheblich besser. Man kann diese Aussprüche positiv nutzen. Man muss sie sich nur immer wieder vergegenwärtigen! Denn sie sind absolut ernst gemeint!

    Ich kann Dir nur Mut zusprechen, auf Deinem Weg zu bleiben, Deinen Sohn ernst zu nehmen und mit ihm nach dem Waffenstillstandsplan zu suchen. 🙂

    Antworten
    • Stefan
      Stefan

      „…sich zu reorganisieren“ finde ich klasse! Ich „reboote“ auch gelegentlich, wenn mir irgendwas u viel wird, ich finde diese Vergleiche klasse, weil für jeden direkt verständlich wird, was gemeint ist! 🙂

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  • jens

    Ich musste ein wenig weinen, so schön.

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  • eakus1904
    eakus1904

    Ein-mal wieder-super Beitrag mit einem noch schöneren Ende.
    Jedenfalls klingt es für mich so(ich hoffe nicht,ich deute es falsch),als wäre das ein Riesenfortschritt für deinen Sohn, für dich,für euch. Und das freut mich ungemein.

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