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#17 Frodo liebt den FC St.Pauli

Moin Jay-Jay!

Vorab: Wir kennen uns noch nicht, ich bedauere dies sehr. Als Du mit Papa am Millerntor warst (Ja, das Stadion heißt wirklich so, ich hab nicht einfach nen Firmennamen aus gefaktem Traditionsglaube weggelassen) hat es mit nem Treffen leider nicht geklappt, weil rund um Heimspiele immer so ein Wirbel ist und mein inzwischen fünfjähriger Sohn damals noch vier war und… naja, alles Ausreden, beim nächsten Mal klappt es, versprochen.

Womit wir beim Thema wären. Welcher Verein soll es für Dich sein?
Bis vor einigen Jahren hätte ich noch voller Inbrunst behauptet, es kann nur der FC St.Pauli sein, denn bekanntlich (so steht es an Hamburger Häuserwänden) ist St.Pauli die einzige Möglichkeit!
Inzwischen aber ertappe ich mich immer häufiger dabei, während eines Spiels verschämte Seitenblicke zu meinem Sohn zu werfen, der inzwischen eine Dauerkarte bei mir und meiner Frau hat, und ihm bei Leiden, Lieben und Hoffen auf der Gegengeraden am Millerntor zuzusehen. Ihn anzuschauen, wenn er bei Wechselgesängen mit am Lautesten die Rufe aus der Süd, wo unsere Ultras stehen, erwidert.
Und ich kann Dir nur sagen, der gemeinsame Torjubel mit ihm ist der Hammer!
Warum schreibe ich das? Weil ich mir sehr sicher bin, dass Dein Vater aus dem Alter raus ist, in dem man seinen Verein ganz eventuell noch mal wechseln kann. Und ich würde Euch beiden so ein gemeinsames Erleben von Support und Torjubel so sehr gönnen. Allerdings ist dies wohl eben nur für den „eigenen“ Verein so möglich, und da Dein Papa vorher da war, musst Du Dich da eigentlich nach ihm richten, tut mir leid.

Aber gut, Kinder haben ja oft auch andere Ansichten, also vielleicht willst Du es anders machen als er, und dann komme ich natürlich auf die Hamburger Häuserwände zurück: „St.Pauli ist die einzige Möglichkeit!“ – Ich will Dir hier gerne schreiben, warum. Hol Dir ne Apfelsaftschorle, es dauert. Auch die klarsten Dinge müssen manchmal ausführlich erläutert werden.

Erst mal meine persönliche “Wie kamst Du denn zu St.Pauli?“-Geschichte.
Ich habe in der Jugend zwölf Jahre für Werder Bremen gespielt und war damit logischerweise auch von Kleinauf Werder-Fan. Folgt man Nick Hornbys (sinngemäß) “Man sucht sich seinen Verein nicht aus – Er wird einem gegeben!”, wäre die Geschichte hiermit schon zuende, denn dann wäre es bei St.Pauli bei zwei einschneidenden Erinnerungen geblieben:
Zum einen ein “Wir haben Arbeit, und Ihr nicht!”-Gesang der Bremer Fankurve bei einem Heimspiel gegen St.Pauli, der irgendwie als Schüler nur bedingt mein Humorzentrum traf, zumal um mich rum auch lauter pickelige Leute mit schrien, die sicher auch noch auf Mamas Kosten lebten.
Zum anderen die allererste selbst gebuchte Auswärtsfahrt meines Lebens, die mich mit 15 Jahren und dem Bus im Mai 1991 zum Millerntor brachte, um ein 0-0 inklusive einer roten Karte für Frank Neubarth zu sehen. (Ja, jene Saison mit dem Relegationsspiel gegen die Stuttgarter Kickers, bei welchem ich nach dem Spiel am Millerntor natürlich eine gewisse Grundsympathie für St.Pauli hatte.) Ich weiß noch, dass es mich sehr irritierte, dass auch die Fans auf der Geraden rechts von mir regelmäßig mit anfeuerten… Aus Bremen kannte ich sowas schließlich nicht.
Das große einschneidende Erlebnis war dann aber das erste Montagsspiel in der Geschichte des DSF, St.Pauli, gegen den VfL Bochum, welches ich mit zwei Bremer Freunden in der Nordkurve schaute, bzw. die Entscheidung Monate später, danach auch auf einem Freitagabend zum Rückspiel zu fahren. Ja, dieses 1:1 als Zweiter beim Tabellenführer, ist das Spiel, an dem ich St.Pauli Fan wurde. Genauer: Zunächst einmal wurde ich Fan der Fans, denn geschätzte 4.000 Gästefans feierten dieses Unentschieden wie einen Aufstieg. Die Mannschaft kam später nochmal aus der Kabine und ließ sich beim Feiern mit den Mitgereisten auch von der Rasensprenger-Anlage nicht irritieren. Unfassbar, sowas hatte ich mit Werder nie erlebt, obwohl die ja nun sportlich deutlich beeindruckendere Erfolge vorzuweisen hatten. Da konnte zwar noch keiner ahnen, dass die vermeintlich komfortablen  fünf Punkte Vorsprung auf 1860 und Bayer Uerdingen noch in den letzten sieben Spielen verdaddelt werden sollten, aber zumindest gefühlt hätte dies an diesem Abend auch wahrscheinlich keinen Unterschied gemacht. Wir besuchten die letzten drei Heimspiele der Saison und das (grandios verlorene) Finale in Wolfsburg, und fortan war es zumindest um mich geschehen. Wir drei sahen die folgende Aufstiegssaison nahezu komplett, inklusive einem „positiv besetzten Platzsturm“ nach einem 5:0 am letzten Spieltag gegen den FC Homburg, leider schon in der 88.Minute. Der Schiedsrichter Bodo Brandt-Cholé reagierte geistesgegenwärtig und behauptete später vor TV-Kameras, er hätte gar nicht auf den Elfmeterpunkt gezeigt, wie viele meinten, sondern tatsächlich abgepfiffen (wie es viele völlig falsch interpretierten) und dann zum Spielertunnel gedeutet. Eiskalte Lüge, aber alles andere hätte Punktabzug wegen Spielabbruch und den Nichtaufstieg zur Folge gehabt. Cooler Typ, auch wenn man natürlich eigentlich nicht lügen soll.

In der Erstligasaison 1995/1996 bekam ich meine erste Dauerkarte, die ich bis heute jedes Jahr verlängert habe und dies wohl auch bis an mein Lebensende weiter so handhaben werde. Ich wurde durch den Verein, die Fanszene und hier natürlich in erster Linie den Fanladen, unser Fanprojekt, politisch sozialisiert, ich schloss Bekannt- und Freundschaften die bis heute bestand haben und als sich 2001 die Gelegenheit durch ein Jobangebot meines Arbeitgebers ergab, zog ich dann auch endlich von Bremen nach Hamburg um.

Der Rest ist Geschichte… ich engagierte mich in Fangremien, von denen es beim FC St.Pauli viele gibt, gründete mit „Die feuchten Biber“ sogar einen Fanclub und gehöre seit 2001 eben auch permanent dem „Übersteiger“ an, einem St.Pauli Fanzine welches es nun schon 20 Jahre gibt. Wäre es nach Nick Hornby gegangen, hätte all dies aber bei Werder Bremen geschehen müssen.
Trotzdem stimmt dieser Satz von ihm natürlich für die Allermeisten, und natürlich kann man auch argumentieren, dass mir diese Fahrt am Freitagabend nach Bochum “gegeben” wurde, trotzdem möchte ich eher behaupten, dass der FC St.Pauli zu Hornbys Satz die Ausnahme ist, die die Regel bestätigt.
Womit sich dann auch der Kreis schließt, denn nachdem ich erklärt habe, warum ich bei St.Pauli bin, folgt natürlich die Frage, wo ich mit dem Verein denn hin will, warum ich immer noch so viel Zeit für und mit ihm verbringe.
Für mich gibt es nach dem Derbysieg (16.Februar 2011) nur noch zwei Ziele, die ich mit dem Verein konkret erreichen möchte: Einmal ins Pokalfinale nach Berlin und einmal ein europäisches Pflichtspiel. Aber darum geht es wohl weniger.

Für mich soll der FC St.Pauli genau diese Ausnahme zur Hornby-Regel bleiben.
Der Verein, den man sich aussucht.

– Der Verein, für den auch weiterhin Fanklubs im Ausland gegründet werden… und eben nicht von dorthin gezogenen Exil-St.Paulianern, sondern von Leuten vor Ort, die wie auch immer von diesem Verein gehört haben und ihm bei ihrer ersten Begegnung erlegen sind.
– Der Verein, zu dem kaum ein Hamburger aktuell eine Einzelkarte bekommt, weil immer ausverkauft ist, bei dem aber beispielweise mehrere Personen aus der Schweiz schon seit Jahren eine Dauerkarte haben und zu fast jedem Heim- und Auswärtsspiel anreisen.
– Der Verein, der nach wie vor in der Außenwahrnehmung in erster Linie für Antifaschismus, Antirassismus und Antisexismus steht, sprich: der irgendwie „links“ ist. Auch, wenn man ehrlicherweise sagen muss, dass es bei den aktiven Gruppen des hsv wahrscheinlich inzwischen auch weitaus mehr Linke als irgendwas anderes gibt, wird dies auf alle Zeit unser herausragendes „Alleinstellungsmerkmal“ bleiben, auch wenn der Kampf gegen die Kommerzialisierung in einigen Jahren schon hoffnungslos verloren sein wird.
– Der Verein, bei dem es solche Sachen wie den Fanladen gibt, der als Fanprojekt nicht nur unabhängig vom Verein ist, sondern auch den Fanbeauftragten stellt, was ebenfalls die absolute Ausnahme in Fußballdeutschland ist.
– Der Verein, der Projekte wie BallKult, Fanräume und Viva con Agua hervorgebracht hat, aus dessen Fanszene auch solch wunderbare Dinge wie KiezKick entstanden.
– Der Verein, dessen Fanszene wohl als einzige innerhalb weniger Tage ohne jede Unterstützung des Vereins ein Stadion in eine komplett andere Farbe (rot) taucht, nur weil irgendwo ein Tropfen aus dem Fass geschwappt ist. (Stichwort: Jolly Rouge)
– Der Verein, bei dem der Großteil der Fans im Stadion bei einer strippenden Stangentänzerin nicht „Boah, geil, guck Dir die Alte an, wat für [zensiert]!“ schreit, sondern sich zu einem „Das hat mit Fuß! Das hat mit Ball! Das hat mit Fußball nichts zu tun!“ erhebt oder sich meinetwegen auch noch anderes ausdenkt.
– Der Verein, der auch in 99 Jahren noch mindestens 50% seiner Plätze zum Stehen anbietet.
– Der Verein, bei dem die Gelder der passiven Mitglieder nicht irgendwo im Gesamtverein versickern, sondern wo diese zielgenau durch die AFM in die Jugendarbeit (nicht nur beim Fußball) investiert werden.
– Der Verein, dessen (inoffizielles) Forum mich oft genug kopfschüttelnd über derartig schwachsinnige Argumentationsketten verzweifeln lässt, unterm Strich damit aber immer noch um Längen über dem Diskussionsniveau anderer Vereine liegt.
– Der Verein, der so eine unglaubliche Vielzahl an wirklich qualitativ guten Fan-Internetseiten (Berichte, Fotos, Blogs, Alles) hervorbringt, wie es ebenfalls kaum ein anderer schafft.
All das möchte ich erhalten, im Idealfall mit neuen Ideen erweitern und ausbauen.

Was möchte ich konkret in den nächsten Jahren?
Ich erhoffe mir, dass wir die Werte dieses Vereins bzw. dieser Fanszene uns nochmal deutlicher vor Augen führen. Ich will am Millerntor niemandem erklären müssen, dass man nicht „Schwuchtel“ oder „Fotze“ ruft.

Und natürlich möchte ich an einem fertig ausgebauten Millerntor einmal ein Derby gewinnen… Durch einen unberechtigten Handelfmeter in der Nachspielzeit, der an den Pfosten geht und von einem beliebigen holländischen Nationalspieler beim Klärungsversuch direkt in ein Verteidiger-Gesicht fliegt und von dort langsam über die Linie trudelt.

Und wenn das alles so kommt, darf mein Sohn den Club gerne in zwanzig Jahren zur Meisterschaft schießen, auch wenn er jetzt gerne noch Torwart werden will.

 

Aber in allererster Linie möchte ich, dass ich noch ganz viele Spiele neben meinem Sohn im Stadion verbringen werde, und mit ihm dort Glaube, Liebe und Hoffe. Und auch er soll irgendwann sagen, dass St.Pauli die einzige Möglichkeit ist. Nicht, weil ich ihm das so beigebracht habe, sondern weil er selbst diesen Verein (mit allen seinen Schwächen) ganz genauso sieht wie ich.
Und klar ist auch: Du bist uns jederzeit herzlichst willkommen. Auf unserer Tribüne ebenso wie im Gästeblock, wenn sich Papas Wunsch vielleicht doch noch erfüllt.

 

Liebe Grüße, aus Hamburg-St.Pauli,

Maik (Frodo)

 

Es hat ein wenig gedauert dem Sohnemann „Schwuchtel“ und „Fotze“ zu erklären, aber trotzdem wird dieser Brief voraussichtlich in meine ganz persönlichen Top3 eingehen.

Und das liegt nicht am spektakulären Geständnis von Frodo, der seine innige, magische Verbindung zur TSG Hoffenheim gesteht.

(„….. Glaube, Liebe, Hoffe….) – Welch ein Slogan!

Nein, im Ernst. Ganz großartiger Brief. Danke Maik, den man natürlich hier auf Twitter findet oder eben auch hier, wobei es mir schon fast unangenehm, da dies sowieso jeder weiß.

Um den Anreiz für weitere großartige Werke an den Sohn hoch zu halten verlose ich unter allen Briefen, die bis zum 31.03.2014 eingehen ( inkl. der bisher erhaltenen Briefe) ein Jahres Abo für den „Tödlichen Pass“.

 Was es mit den Briefen auf sich hat kann man hier nachlesen.

Was es mit diesem Blog auf sich hat, kann man hier erfahren.

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4 Comments

  • Jeky
    Jeky

    Sehr schön geschrieben, Frodo, sehr schön 🙂

    Antworten
  • Kiezkicker
    Kiezkicker

    >es kann nur der FC St.Pauli sein, denn bekanntlich (so steht es an
    >Hamburger Häuserwänden) ist St.Pauli die einzige Möglichkeit!

    Jo! http://www.ipernity.com/doc/kiezkicker/450377/

    Und bezüglich der Zukunftsperspektive für dein Sohn hat Freddie ja schon alles gesagt.
    Anmerken möchte ich dann nur noch, dass der Fanladen zwar offiziell Fanprojekt ist – aber eigentlich ist er viel mehr als das. Er ist die Keinzelle von so vielem, was der Verein heute ist… Fanprojekt klingt so altbacken, und das / es wird dem Fanladen einfach nicht gerecht, wenn man ihn mit anderen „Fanprojekten“ bei anderen Vereinen vergleicht. Er ist einfach mehr.

    Und was du in deiner Aufzählung auch noch vergessen hast:
    St. Pauli ist einer der ganz wenigen Vereine, in denen Fans dafür sorgen, dass sie ihre eigenen Veranstaltungsräume im Stadion gebaut bekommen- durch eigene finanzielle Mittel, gesammelt durch unzählige Fanaktionen und unterstützt eben auch durch die von der erwähnte AFM.

    St. Pauli ist der Verein, der seinen Fans weitestgehend freie Hand bei der Bemalung des Stadions ließ.

    St. Pauli ist der Verein, bei dem auch eine flagge auf dem Stadiondach wehen darf, die durchaus eine politische Aussage darstellt, etwas, von dem sich andere Vereine sonst eher distanzieren oder es lieber gar nicht erst ansprechen.

    Antworten
  • Steffen Prowe
    Steffen Prowe

    Hi Frodo, Grüsse aus Berlin,
    Danke für diesen super inspirierten Brief, ich bin dabei. Auch wenn wir nicht andauernd zu einem Spiel fahren können, aber in Berlin haben wir 4 als Familie die letzten Spiele miterlebt, auch Hertha (aber ohne Sohn, Mo abends…). Die Kinder sind beide, Tochter und Sohn, vorbehaltlos St. Pauli „sozialisiert“, auch weil wir sehr liebe Freunde am und im Verein bzw der aktiven Fanszene haben.
    Und die hatten uns mal auf die alte Haupttribüne mitgenommen, und dann hat’s „bumm“ gemacht und es gibt keine andere Möglichkeit mehr. So ist das eben, und es ist gut so. Nach einigen Jahren in Hamburg sind wir jetzt aus Berlin „dran“, am besten meist über St. Pauli FM, die geilsten Radiomoderatoren der Szene! Den 16.2. haben wir eben am St. Pauli FM mitgehört und gestreamt dann 20 s später alle Asamoas Tor gesehen, und geschrien!!!
    Gerne sind wir in der Süd – wenn wir ne Karte organisiert bekommen… Und die „Farben des Vereins“ links-gegen Nazis-gegen Diskriminierung gehören zum Familienton.
    Wir lieben diesen Verein und damit zeigen wir auch wo wir stehen. Da wo es ehrlich, chaotisch und im Diskurs zugeht, nie aber „straight“ und nur nach Kohle aus, eben „Millerntorstadion“!
    Grüsse von Steffen +3

    Antworten
  • Freddie
    Freddie

    >Und wenn das alles so kommt, darf mein Sohn den Club gerne in zwanzig Jahren zur
    > Meisterschaft schießen, auch wenn er jetzt gerne noch Torwart werden will.

    Wir wissen doch – dank #26 – dass sich das beides nicht ausschließt!

    Antworten

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