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Wochenendrebellen Kritik | Vorwurf: Cripping up

Warum ist der Schauspieler, der Jason spielt kein Autist

„Cripping Up“ und die Kritik an dieser Praxis

Der Begriff „Cripping Up“ ist eng mit der kontroversen Praxis der Schauspielerei verbunden, bei der nicht-behinderte Darstellerinnen in die Rollen von Menschen mit Behinderungen schlüpfen. Der Begriff setzt sich aus zwei Teilen zusammen: „cripple“, was auf Englisch „Krüppel“ bedeutet, und „up“, was „hoch“ oder „empor“ bedeutet. Zusammen beschreibt „Cripping Up“ die Handlung, wenn Schauspielerinnen ohne eigene Behinderung sich in die Haut von Charakteren mit Behinderungen begeben.

Die Verwendung des Wortes „cripple“ in diesem Zusammenhang wirft bereits die Frage nach der Sensibilität und der Ethik auf. „Cripple“ ist ein abwertender Begriff, der noch heute oft als Beleidigung oder abfällige Bezeichnung für Menschen mit Behinderungen verwendet wird. Die Nutzung dieses Begriffs im Kontext von „Cripping Up“ verleiht der Praxis eine zusätzliche negative Konnotation.

Ein bekanntes Beispiel für „Cripping Up“ ist die Besetzung von Eddie Redmayne als Stephen Hawking im Film „Die Entdeckung der Unendlichkeit“. Ähnlich verhielt es sich bei Daniel Day-Lewis, der im preisgekrönten Film „Mein linker Fuß“ die Rolle eines Menschen mit spastischer Lähmung verkörperte. Auch Leonardo DiCaprio übernahm in „Gilbert Grape“ die Rolle eines Charakters mit Behinderung. Diese Schauspieler erhielten Anerkennung für ihre schauspielerischen Leistungen, jedoch löst diese Praxis zunehmend berechtigte Kritik aus.

Die Kritikpunkte an „Cripping Up“ sind vielfältig und aufschlussreich. Die künstliche Darstellung von Menschen mit Behinderungen führt oft zu stereotype und oberflächlichen Charakteren. Diese Darstellungen bleiben hinter der Komplexität und Realität von Menschen mit Behinderungen zurück. Klischees werden verstärkt, sei es durch die Darstellung von Menschen mit Behinderungen als Opfer oder als übermäßig glorifizierte Helden.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die fehlende Teilhabe am Arbeitsmarkt der Schauspielerei für Menschen mit Behinderungen. Diese Schauspieler*innen haben oft Schwierigkeiten, Zugang zu Rollen und Auftritten zu bekommen, die ihre Fähigkeiten und Talente berücksichtigen. Dies führt zur Unterrepräsentation von Menschen mit Behinderungen auf der Leinwand und auf der Bühne.

Die Talente von Menschen mit Behinderungen werden nicht ausreichend gefördert, da die Praxis des „Cripping Up“ diese Schauspieler*innen ausschließt und ihre Vielfalt und Originalität ungenutzt lässt. Die Filmindustrie verpasst es, von ihren einzigartigen Perspektiven und Fähigkeiten zu profitieren.

Darüber hinaus verstärkt die Praxis des „Cripping Up“ die Existenz von Parallelwelten in der Filmindustrie. Menschen mit Behinderungen werden oft als separate Gruppe betrachtet, die lediglich als Objekt der Transformation für nicht-behinderte Schauspieler*innen dient. Dies trägt zur weiteren Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen aus dem Mainstream bei und verhindert eine echte Integration und Diversität in der Unterhaltungsindustrie.

Inklusion und die Notwendigkeit der authentischen Darstellung

Die Argumentation der Befürworterinnen von „Cripping Up“ beruht oft auf der Idee, dass Schauspiel eine Kunstform ist, die es Darstellerinnen erlaubt, in unterschiedliche Rollen zu schlüpfen. Diese Perspektive vernachlässigt jedoch den Mangel an Möglichkeiten für Menschen mit Behinderungen in der Schauspielbranche. Nicht-behinderte Schauspieler*innen haben bereits Zugang zu einer breiten Palette von Rollen, während Menschen mit Behinderungen oft auf stereotype Charaktere beschränkt sind.

Die Debatte geht über die rein schauspielerische Praxis hinaus. Sie berührt grundlegende Fragen der Identität, Repräsentation und Gleichberechtigung. Die Forderung nach inklusiver Darstellung von Menschen mit Behinderungen zielt darauf ab, Chancengleichheit zu schaffen und ihre vielfältigen Erfahrungen authentisch zu repräsentieren. Das ist eine Diskussion, die man führen kann, wir halten den Film „Wochenendrebellen“ aber sicherlich für einen denkbar schlechten Anlass um dies zu kritisieren.

Die Lösung liegt nicht darin, „Cripping Up“ komplett zu verbieten, sondern darin, einen breiten Zugang für Menschen mit Behinderungen in der Filmindustrie zu schaffen. Dies umfasst nicht nur die Schauspielerei, sondern auch Regie und Drehbuchautor*innen. Authentische Repräsentation kann nur erreicht werden, wenn Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit haben, ihre eigenen Geschichten zu erzählen und ihre Perspektiven einzubringen. Und genau das tut „Wochenendrebellen“.

In einer Welt, in der Diversität gefeiert wird, ist es an der Zeit, dass die Filmindustrie eine inklusive und authentische Darstellung von Menschen mit Behinderungen priorisiert. Wenn dies geschieht, wird die Behinderung nicht länger als isolierendes Merkmal dargestellt, sondern als natürlicher Bestandteil der menschlichen Vielfalt anerkannt. Am gesamten Entstehungsprozesses unseres Films „Wochenendrebellen“ wurde zunächst einmal Jason selbst mit seinen ganz persönlichen Bedürfnissen und als Bestandteil des Casts einfach und mit gesundem Menschenverstand eine Teilhabe ermöglicht. Das wurde wirklich stets vorbildlich gelöst, aber auch aus vielen Perspektiven heraus sind wir sehr glücklich auch einen kleinen Beitrag dazu leisten zu dürfen, dass „Wochenendrebellen“ ein Film geworden ist, der auf sehr vielen Ebenen nicht nur ableistische Sprache vermeidet, sondern einen einzigartigen Einblick für neurotypische Menschen bietet eine Vorstellung davon zu bekommen, wie eine autistische Perspektive z.B. bei Reizüberflutung aussehen kann. Marc Rothemund und seinem Team war es nach nur einem neunzigminütigen Call möglich mit in Jasons Kopf einzutauchen um das Soundgeräusch für eine einzelne Filmsekunde zu definieren.

Der Austausch mit Jason führte zu einen audiovisuellem Transfer einer nicht sichtbaren Behinderung auf die Kinoleinwand. Ja, den Satz sollte man zwei Mal lesen. Das ist eine unfassbare Leistung der Film-Crew, die mit Sicherheit auch einen Einfluss auf das Verständnis von neurotypischen Menschen haben wird. Das ist ein geschaffener Wert für die Zukunft und das lässt sowohl Jason als auch mich ehrlich gesagt etwas entspannter auf den Vorwurf von „Cripping up“ reagieren, was nichts daran ändert die Kritik in Gänze nicht Ernst zu nehmen, aber dieser Film leistet einen sehr wertvollen Beitrag für eine inklusivere Gesellschaft und dazu gehört auch an der richtigen Stelle einen Kompromiss eingehen zu können, was uns zur Kritikfrage im Kern zurückbringt.

Warum ist Jasons Darsteller nicht autistisch?

Die Entscheidung, Cito Andresen als Darsteller für die Rolle des autistischen Jason von Juterczenka im Film „Wochenendrebellen“ zu wählen, basierte auf einer sorgfältigen Abwägung von verschiedenen Faktoren.

Der Film selbst beschreibt eine stark verdichtete Darstellung von Jasons Leben im Alter von 6 bis 11 Jahren, was die Auswahl quantitativ schon einmal massiv einschränkte, denn wir suchten somit einen Jungen im Alter von ca. zehn Jahren. In dieses Auswahlverfahren waren sowohl Jason selbst als auch ich integriert. Es war von Anfang an keine explizite Suche nach einem autistischen Schauspieler für die Rolle vorgesehen, da Jason eine sehr nahe Darstellung seiner Persönlichkeit als am wichtigsten erschien und er, wenn es überhaupt jemanden da draußen gibt, der das zu seiner Zufriedenheit spielen könnte, nicht verborgen bleiben sollte, weil er selbst zu einschränkende Ansprüche stellt. Es sollte kein Arschloch sein, war Jasons Bedingung unnd er solle explizit ihn einfach fantastisch gut spielen können. Jason konnte nie zwischen dem Film-Jason und sich selbst trennen, weil er je selbst nicht erklären kann, welche seiner Handlungsweisen seinem Autismus geschuldet ist, da dieser elementarer Bestandteil seiner Persönlichkeit ist.

Es ist auch wichtig zu betonen, dass „Wochenendrebellen“ nicht primär als ein Film über Menschen im Autismus-Spektrum konzipiert wurde, sondern als eine Erzählung über Jason und sein Leben und unsere Erlebnisse, gleichzeitig aber jedem auch klar war, dass die Geschichte eine besondere authentische Nähe benötigt.

Jason ist Autist und seine eigene Anspruchshaltung an die Darstellung seiner Geschichte war geprägt von dem Wunsch nach höchstmöglicher Authentizität im Bezug auf seine gesamte Persönlichkeit. Er strebte danach, in der Darstellung seines Charakters als Jason gesehen zu werden – als sich selbst.

Während des Auswahlprozesses für die Besetzung war es eine bewusste Entscheidung, nicht ausschließlich nach einem autistischen Schauspieler zu suchen. Stattdessen stand die Authentizität der Darstellung im Vordergrund. Jason selbst hat sowohl dem Regisseur Marc Rothemund als auch der Produktion unmittelbar nach der Sichtung der ersten Casting-Szenen klar kommuniziert, dass Cito Andresen der „Jason“ ist, den es für die Rolle braucht. Man kann Jason Zufriedenheit sehr gut ansehen. 😉

Cito wurde intensiv auf seine Rolle vorbereitet, indem er Zugang zu umfangreichem Original-Wochenendrebellen-Video und Bildmaterial erhielt, er las zudem die Schattenspringer Reihe und erhielt detaillierte Briefings. Diese Vorbereitung ermöglichte es ihm, Jasons Verhalten und Charakterzüge zu verstehen und in seiner Darstellung zu berücksichtigen. Die Entscheidung, Cito für die Rolle zu wählen, resultierte aus dem gemeinsamen Bestreben, Jasons Geschichte mit größtmöglicher Rücksichtnahme auf Authentizität zu erzählen.

Dieses unfassbare Glück dann später im finalen Film zu sehen, dass Cito nicht nur kein Arschloch ist, sondern vermutlich die absolute Schauspielentdeckung schlechthin, ist ein Glück, welches wir noch nicht fassen können. Ich habe mich für die Besetzung meiner Rolle von Beginn an sehr offen gezeigt, weil immer klar war, dass der Film von einem starken Jason leben muss.

Die Wucht der Szenen im Bistro, am Esstisch, aber auch insbesondere die Hust-Szene im Auto, ich kann hier leider nicht zu viel spoilern, sind gigantisch-gruselig echt und einfach fantastisch geschauspielert. Aber zum Wunder Cecilio „Cito“ Andresen an andere Stelle einmal mehr.

Es ist zu beachten, dass die Entscheidung, keinen autistischen Schauspieler in der Hauptrolle zu besetzen, nicht darauf abzielte, die Bedeutung der authentischen Darstellung von Menschen mit Behinderungen zu minimieren. Vielmehr stand die enge Zusammenarbeit mit Jason selbst im Mittelpunkt der Entscheidungsfindung. Während es wünschenswert gewesen wäre, einen zehnjährigen autistischen Schauspieler zu finden, der Jason in all seinen Facetten hätte darstellen können, wurde bewusst darauf verzichtet, dies zur ausschließlichen Bedingung zu machen.

Die Wahl von Cito Andresen als Darsteller für Jason von Juterczenka in „Wochenendrebellen“ spiegelt somit die Bemühungen aller Beteiligten wider, Jasons Geschichte einfühlsam und authentisch zu erzählen, während gleichzeitig eine enge Zusammenarbeit zwischen Jason selbst, dem Regisseur und der Produktion gewährleistet wurde.

Das dürfte in dieser krassen Nähe nahezu einzigartig sein, wir sind aber der festen Überzeugung, dass dieses Maß an einerseits von uns zugelassener Nähe , aber natürlich auch die damit im Gegenzug verbundene Form von Teilhabe und Mitbestimmungsmöglichkeiten und das verdammt gute Gefühl diesen Film mit zu dem gemacht haben was er ist.

Für diese Möglichkeit sind wir dem gesamten Film-Team von Wiedemann & Berg, LEONINE und dort explizit Justyna Müsch, Marc Rothemund und Richard Kropf unendlich dankbar.

Wir sind und waren uns jederzeit bewusst, dass „Cripping Up“ ein durchaus berechtigter Kritikpunkt an unserem Film sein kann, sind aber auch überzeugt, dass ein Film gelungen ist, der Verständnis für das autistische Spektrum erzeugen kann. Dazu ist der Film sehr unterhaltsam, humorvoll und noch viel authentischer als die Zuschauer glauben werden. Während seines gesamten Schaffensprozesses sind alle Mitarbeiter, Partner und Filmverantwortlichen sehr sensibel, aufmerksam und rücksichtsvoll mit unserer Geschichte aber auch insbesondere mit Jasons persönlichen Bedürfnissen umgegangen. Wenn es bezüglich der Entscheidung die Rolle nicht mit einem autistischen Schauspieler zu besetzen Kritik geben sollte, wendet euch bitte an uns und nicht an das Filmteam.

„Als ich die ersten bewegten Bilder von Cito sah, einer Szene in der Papsi und ich einen Konflikt austrugen, war ich sofort in der eigenen Vergangenheit und war auf Papsi wütend. Ich könnte mir niemanden besseren für die Rolle vorstellen.“

Jason von Juterczenka
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5 Comments

  • Ute Große-Westermann
    Ute Große-Westermann

    Hallo ihr Helden,
    am Wochenende habe ich mir den Film angeschaut und bin schwer begeistert. Ich bin vor allem beeindruckt, wie grandios es gelungen ist viele Facetten der „Lebensweise“ eines Jungen mit Autismus darzustellen.
    Da ich Studierenden im Lehramt für das Fach „Sport“ EInblicke in das Thema Inklusion ermöglichen möchte, werde ich die Wochenendrebellen auf jeden FAll weiterempfehlen. Es braucht Menschen wie euch, um das Denken der Menschen zu bereichern und die Idee des gemeinsamen Miteinanders und Nebeneinanders und Füreinanders zu beflügeln.
    Hut ab auch für euren Blog

    Antworten
  • fasni
    fasni

    Wie ich schon im FediVerse schrieb:
    Herausgekommen ist ein Film, der für mich definitiv ein Highlight der letzten Jahre darstellt (und keiner der „großen“ Blockbuster!).
    Als Hörer eures Podcasts kannte ich ein paar Szenen ja schon aus euren Folgen.
    Aber diese dann im Film zu sehen und darin eingebettet in eure Geschichte, ist natürlich nochmal was ganz anderes.
    Ich bin euch daher wirklich sehr dankbar, dass ihr euch seinerzeit entschieden habt, dass der Film Realität werden konnte!
    Und Cito finde ich absolut großartig in seiner Rolle als Jason!
    Ich habe mich im Kino immer wieder gefragt, ob er vielleicht selbst Autist ist, weil seine Reaktionen für mich absolut nicht wie gespielt wirken.
    Wurde er durch die im Artikel beschriebene Nähe während der Vorbereitung auf seine Rolle für euch zu einem „Freund der Familie“, bzw. für eure Kinder zu einer Art Bruder?
    Oder beschränkte sich das rein auf die Film-Produktion?
    Herzliche Grüße, fasnix

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    • Mirco

      Hey,
      wir lieben Cito und das sicherlich für Außenstehende, aus ganz nachvollziehbaren Gründen. Wir lieben ihn aber auch, weil er und seine gesamte Familie ganz fantastische Menschen sind. Grüße Mirco

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      • fasnix
        fasnix

        Ach, das finde ich schön 🙂

        (Es sollte ohnehin viel mehr Liebe unter den Menschen geben …)

        LG, fasnix

        Antworten
  • Anne
    Anne

    Meiner Meinung nach sollte jede/r Lehrer/in dazu verpflichtet werden, diesen Film anzuschauen. Dann würden meine Berufskolleg/innen endlich begreifen, was sie massenhaft jeden Tag anrichten. Vielen Dank dafür, dass es diesen Film gibt.

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