fbpx

Wochenendrebellen

Groundhopping | Autismus | Wissenschaft | Podcast | Weltverbesserung

Physik-Mythen 2: Der Tunneleffekt ist keine Quantenphysik.

Tunneleffekt

Der Tunneleffekt ist fester Bestandteil des Physikunterrichts der Oberstufe im Themenfeld Quantenphysik. Dort wird er als skurriler und beinahe magischer Quanteneffekt verkauft: Quantenmechanische Teilchen können eine Barriere auch dann überwinden, wenn deren Energie höher ist als ihre eigene, sie können daher auch dort gefunden werden, wo es gemäß klassischer Physik unmöglich wäre. Nicht nur ist diese Darstellung des Tunneleffekts falsch, er hat auch eigentlich wenig mit Quantenphysik zutun, sondern mit Schwingungen und Wellen. Man macht es sich da viel zu schwer…

Das Potential in der Physik

In der Schule wird der Tunneleffekt über den Begriff des Potentials eingeführt – kann man machen, auch wenn sich über die Sinnhaftigkeit streiten lässt. Ein Potential ist die Fähigkeit eines Kraftfeldes zur Verrichtung von Arbeit – jedem Punkt des Feldes kann ein Potential zugeordnet werden.

Auf einem Potentialwall oder Potentialhügel kann ein Körper folglich Arbeit verrichten (weil zuvor Arbeit verrichtet wurde, um ihn dorthin zu befördern), einen Potentialtopf kann ein Körper nur hinter sich lassen, wenn ihm mindestens die Energie des Potentialtopfes zugeführt wird.

Das bekannteste Beispiel ist wohl das Potential des Gravitationsfeldes. Wir alle befinden uns in einem riesigen Potentialtopf namens Erde und wir müssen viel Arbeit verrichten, um diesem zu entkommen. So viel, dass wir dafür Raketen bauen müssen.

Ein Potential kann aber immer nur zwischen zwei Punkten angegeben werden. Oft wird dem Erdboden sinnvoller Weise ein negatives Potential zugeordnet, setzen wir dieses aber auf null, dann wäre ein Berg beispielsweise ein Potentialhügel. Ein Körper, der sich dort befindet, kann Arbeit verrichten und diese Arbeit wird bedauerlicherweise auch verrichtet, sollte er auf die Idee kommen, herunterzufallen.

Das Gravitationspotential ist aber nur ein Beispiel, aus der Q-Phase kennt man auch das Coulomb-Potential, das Prinzip ist dasselbe. In der klassischen Physik gilt nun die scheinbar offensichtliche Tatsache: Stehst du vor einem Hügel und willst hinüberspringen, benötigst du so viel Energie, dass du damit mindestens so hoch springen kannst wie der Berg hoch ist.

Der Tunneleffekt in der Schule

Genau diese zum Verlassen eines Potentialtopfes (oder Überwinden eines Potentialhügels, es geht nur um die Überwindung eines bestimmten Potentials) nötige Minimalenergie ist in der Quantenphysik nun nicht so klar umrissen, wie in der klassischen Physik. Hier haben die Körper ja schließlich keine fest definierten Orte und Geschwindigkeiten, sondern lediglich Aufenthaltswahrscheinlichkeiten und mit viel Mathematik kann man zeigen, dass die Aufenthaltswahrscheinlichkeit eines Teilchens auch hinter einem Potentialwall, der höher ist als die Energie des Teilchens groß, nicht ganz null ist.

Man betrachtet dafür ein drei Potentiale, eines vor der Barriere, eines in der Barriere und eines hinter der Barriere, sowie ein Teilchen mit einer Energie, die größer als null, aber kleiner als das Potential der Barriere ist. In diesem Potential hat ein Teilchen eine bestimmte Schrödingergleichung, eine Differentialgleichung, welche die zeitliche Veränderung seines Zustands beschreibt.

Nun kann diese Differentialgleichung gelöst werden, indem als Ansatz eine Wellenfunktion eingesetzt wird und am Ende erhält man die Transmisisionswahrscheinlichkeit, also die Wahrscheinlichkeit, mit der das Teilchen die Barriere überwindet, selbst wenn sie nach den Gesetzen der klassischen Physik zu hoch ist. Tatsächlich kann beobachtet werden, dass ein Teilchen an einer solchen Barriere nicht vollständig reflektiert, also zurückgeworfen, wird, sondern ein Teil die Barriere passiert. Es ist, als würde ein Tunnel durch den Potentialhügel gebaut, man sagt, die Barriere wird „getunnelt“. Deshalb Tunneleffekt.

Tunneleffekt im Zustands-Potential-Diagramm
Der Tunneleffekt als Quantenphänomen, wie er in der Schule gelehrt wird

Das klingt nun wie eine von vielen, vielen WTF-Eigenschaften der Quantenphysik, über die man am besten einfach nicht zu viel nachdenkt. So wird er im Physikunterricht und auch in den Medien meist auch behandelt.

„… mit den Gesetzen der klassischen Physik nicht zu erklärende quantenmechanische Erscheinung … „

Lexikon der Physik, spektrum.de

Doch das ist er nicht. Es ist eigentlich viel einfacher.

Evaneszente Wahrscheinlichkeitswellen

Im letzten Artikel dieser Reihe habe ich die Totalreflexion auseinandergenommen. Wenn Wellen nicht in ein Medium eindringen können, also total reflektiert werden, dringen sie dennoch in dieses ein und klingen als sogenannte evaneszente Wellen unter dessen Oberfläche exponentiell ab. Dies gilt für alle Wellen. Ich habe bereits elektromagnetische, Schall- und seismische Wellen angesprochen. Doch habt ihr einmal darüber nachgedacht, was eigentlich damit gemeint ist, dass „ein Teil“ eines Teilchens sich abspaltet und die Barriere passiert oder sich eine Aufenthaltswahrscheinlichkeit ausbreitet? Das klingt doch alles verdächtig nach Wellen, nicht? Was für Wellen könnten das sein? Schließlich beobachten wir den Tunneleffekt ja bei Teilchen, bspw. einem Elektron.

Diesem Elektron kann an jedem Punkt im Raum eine bestimmte Aufenthaltswahrscheinlichkeit zugeordnet werden, sein Zustand wird beschrieben durch eine Wellenfunktion. Der Wert der Wellenfunktion, auch Wahrscheinlichkeitswelle genannt, an einem bestimmten Punkt im Raum stellt die Wahrscheinlichkeit dar, dass sich das Teilchen an diesem Ort befindet. Ob die Wahrscheinlichkeitswelle nun das Elektron ist, oder ob sie die Aufenthaltswahrscheinlichkeit des Elektrons darstellt, das ist eine philosophische Frage. Aber klar ist: Die Wahrscheinlichkeitswelle zeigt dieselben Eigenschaften wie klassische Wellenerscheinungen auch. Dazu gehören auch evaneszente Wellen.

Was wir also als Tunneleffekt bezeichnen, ist nichts anderes als die verhinderte Totalreflexion quantenmechanischer Wahrscheinlichkeitswellen. Der Großteil der Welle wird an der Barriere reflektiert, das in diesem Fall kann das Teilchen die Barriere nicht durchkreuzen. Doch die in der Barriere abklingende evaneszente Welle kann es und folglich ist die Amplitude der Wellenfunktion hinter der Barriere ungleich null.

Wir können es aber auch umkehren und sagen: Was wir beim Licht an den beiden Prismen beobachten, ist ein Tunneleffekt. Das Licht tunnelt die Luft als Barriere zwischen den Prismen. Wichtig ist lediglich, dass der Tunneleffekt kein Quantenphänomen, sondern ein Wellenphänomen ist, das dann logischerweise auch die Wahrscheinlichkeitswellen der Quantenphysik zeigen.

Philosophische Aspekte

Diese Unterscheidung ist keine unbedeutende Kleinigkeit, denn der Tunneleffekt von zentraler Bedeutung für die Entstehung von Leben im Universum. Im Innern der Sonne wäre ohne Berücksichtigung der evaneszenten Wellen keine Kernfusion möglich, denn Druck und Temperatur genügen nicht, um das Coulomb-Potential zwischen zwei (natürlich gleichnamig geladenen, also sich abstoßenden) Protonen zu überwinden. Nur dadurch, dass die Teilchen diese Barriere mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit tunneln, genügt der Energieumsatz im Innern der Sterne überhaupt.

Wir verdanken den evaneszenten Wellen unsere Existenz. Doch wir verdanken ihr auch den Alpha-Zerfall, die Supraleitung, spontane Mutationen im genetischen Code, den USB-Stick und die Synthese wichtiger organischer Stoffe in dunklen kosmischen Gaswolken.

Pferdekopfnebel, Tunneleffekt
Durch den Tunneleffekt können in solchen Gaswolken, wie hier dem Pferdekopfnebel, die Grundbausteine des Lebens synthetisiert werden, etwa Formaldehyd.

Den Tunneleffekt einmal auf neue Weise zu betrachten, eröffnet interessante philosophische Überlegungen, die mit reinem Schulwissen verschlossen bleiben: Wenn Wahrscheinlichkeitswellen dieselben Wellenphänomene zeigen wie Wasser– oder Schallwellen, inwiefern spricht das dafür, dass sie mehr sind also nur mathematische Konstrukte, sondern ihnen eine reale Existenz zugeschrieben werden kann? Oder sind sie als mathematische Beschreibung einfach nur so gut, dass sie auch Phänomene zutreffend beschreibt, für deren Erklärung sie gar nicht entwickelt wurde? Diese Interpretationsfragen der Quantenphysik sind noch nicht geklärt, aber daran wird sich auch nichts ändern, wenn wir nicht einmal mehr die Frage stellen.

Die Quantenphysik ist voll von Skurrilitäten. Der Tunneleffekt gehört nicht dazu.

Show More

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert